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Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Fey
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stieg zu ihrer Wohnung hinauf. Fitnesstraining inklusive, hatte der Eigentümer am Telefon gesagt, als er sie auf den fehlenden Aufzug aufmerksam machte. Für Carina war das ein Grund mehr gewesen, sich für die Wohnung zu entscheiden. Im Treppenhaus roch es muffig, so als hätten sich die Gerüche von Eintopf-, Braten- und Sauerkrautgerichten in den Ecken festgesetzt. Ihr gefielen die knarzenden, dunkel lackierten Treppen, das abgegriffene Jugendstilgeländer und die großen Kastenfenster mit den geschwungenen Griffen. Die helle Tür ganz oben wirkte wie eine Speichertür, und von dem kleinen Podest aus, das das Ende des Treppenhauses markierte, hätte man Reden halten können. Mit klopfendem Herzen sperrte sie auf. Dahinter, noch im Dunkeln, lag ihr neues Reich. Außer einem Besen, einer altmodischen Spüle mit zerschlissenen Vorhängen und einem Boiler gab es noch nichts in dem großen Zimmer mit Küche und Bad. Keinen Stuhl, keinen Schrank. Es war wirklich ein Neuanfang. Ein paar Schamhaare, wahrscheinlich vom Dirigenten-Vormieter klebten im Abfluss der Dusche, und auf dem Waschbecken lag eine leere Shampooflasche. Unter der Kuppel des Zwiebeldaches würde sie ein Bett aufstellen, mit Blick über die Dächer bis zum Gasteigberg. Sie öffnete das Rundbogenfenster und holte tief Luft. So hatte sie es sich vorgestellt. Tief sog sie die laue Nachtluft des Münchner Herbstes ein und verschob das Putzen auf morgen. Dafür war sie heute zu müde. Sie rollte die Isomatte und den Schlafsack aus, fand noch eine Pulversuppe in der Reisetasche und löste sie in heißem Wasser aus dem Boiler auf. Vielleicht sollte sie Sterne in die Kuppel malen, dachte sie und tunkte die restlichen Tortillas in die Suppe. Auf dem Cerro de la Estrella , dem Sternenhügel, mitten in Mexiko-Stadt, hatte Lars als Archäologe gearbeitet. Neben riesigen katholischen Eisenkreuzen half er eine Pyramide der Teotihuacan-Kultur auszugraben und baggerte nebenbei seine Assistentin an. Als Carina sich aufregte, behauptete er, da wäre nichts gewesen. Sie glaubte ihm nicht. Zur Versöhnung lud er sie an die Küste am Golf von Mexiko ein. Die berühmten Olmekenköpfe, aus Basalt gehauen, hatte Carina schon immer sehen wollen. Also gab sie nach. Sie verbrachten zwei Tage in Villahermosa, besuchten das dortige Freilichtmuseum La Venta und den angrenzenden Zoo. Träge Krokodile, kreischende Tukane, aber auch eine zentralamerikanische Art der Elster bettelten hier um Futter aus dem Automaten. La urraca war leuchtend blau und weiß mit abstehenden Kopffedern, einem Bruststreifen wie ein Halsreif und sah eigentlich bayerischer aus als die schwarz-weißen Elstern, die Carina aus München kannte.
    Sie zeichnete und studierte die Steinmonumente. 1925 hatte ein Indianerkind einen der dreitausend Jahre alten Monumentalköpfe ausgebuddelt. Drei Meter große Köpfe, wie abgerundete Vierecke, mit ernsten Gesichtszügen; die aufgeworfenen Lippen und breiten Nasen von einem Helm umrahmt. Auf der Rückfahrt war Lars sichtlich erleichtert, dass Carina so begeistert und bereit war, ihm zu verzeihen. Sie liebten sich auf einem Kakteenfeld, übernachteten eng umschlungen im Freien unter dem Sternenhimmel. Am Morgen zupfte sie ihm Kaktusstacheln aus dem Hintern. Wenigstens eine kleine Rache, dachte sie. Ausgelassen und glücklich fuhren sie mit dem Leihwagen zurück in Richtung Mexiko-Stadt. Knapp auf der Hälfte der Strecke musste Lars einem Gürteltier ausweichen, der Wagen kam von der maroden Straße ab und überschlug sich.
    Ihr Handy klingelte. Silvia musste morgen wegen ihres Nasenfurunkels zu einer Gewebeprobe ins Krankenhaus.
    »Um halb acht. Begleitest du mich? Dann bist du noch rechtzeitig in der Arbeit.«
    Carina stimmte zu, ließ sich noch ein paar von Wandas und Sandros Eskapaden erzählen, gähnte, wünschte Silvia eine gute Nacht und legte sich schlafen. Sie hatte gerade begonnen, wegzudämmern, als es erneut klingelte. Lars. Sie stellte das Handy aus. Jetzt war sie hellwach, und ihr Magen knurrte. Dennoch konnte sie sich nicht aufraffen, in ein Restaurant zu gehen; stattdessen schaltete sie das Licht wieder an und zog das Skizzenbuch mit den Olmekenköpfen heraus. Frau Salbecks Kopie des Kinderfotos fiel ihr in die Hände. So pausbackig wie ein Olmeke waren die beiden Mädchen nicht gewesen. Carina skizzierte die Jüngere der beiden, allerdings verlieh sie ihr erwachsene Züge, zog das Gesicht in die Länge, gab ihr ein spitzeres Kinn, eine hohe Stirn, eine lange

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