Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
sind von ihr.« Sie wühlte in ihrer Handtasche, zeigte Carina ein Schwarz-Weiß-Foto. Die beiden Mädchen trugen Badeanzüge, das kleinere hatte eine runde Brille auf der Nase und einen Schwimmreifen um die Mitte. Die Frau zwängte sich zwischen Waage und Glasschrank auf einen Stuhl und setzte sich. »Meine Schwester Rosa und ich, Luise Salbeck. Da waren wir vier und sechs. Vor über vierzig Jahren war das. Schwarz-Weiß-Fernseher, Schwarz-Weiß-Fotografie, meine Eltern haben sich erst ein paar Jahre später Farbe geleistet. Dabei war Rosas Badeanzug rosa, ihre Lieblingsfarbe als Kind, und meiner gelb. Auf dem Bild sieht man keinen Unterschied. Aber Sie werden das nicht wissen, so alt sind Sie noch nicht.«
Carina zog ihren Kittel aus, verstaute die Zeichenutensilien in ihrer Tasche. »Kommen Sie, ich bin auch auf dem Heimweg. Ich zeig Ihnen, wo die Pathologie ist.«
Frau Salbeck machte keine Anstalten aufzustehen. »Ich war hier schon mal. Damals, als meine Schwester angeblich gefunden wurde.« Sie schnüffelte. »Hier riecht’s komisch. Das beste Putzmittel kriegt wohl den Leichengestank nicht weg.« Ihr Blick schweifte über die Stahltische, blieb an einer Blutspur am Boden hängen. »Sie haben mich warten lassen und vor der Tür gestritten. Aber meine Schwester durfte ich trotzdem nicht sehen. Als ich mich geweigert habe zu gehen, zeigten sie mir Fetzen von ihrem geblümten Rock. Rosas Leichnam war angeblich zu entstellt.« Sie strich über das Foto in ihrer Hand. »Ich konnte es schon damals nicht glauben. Sie hätte niemals Selbstmord begangen. Einerseits war die Warterei vorbei, sie war in der Isar gefunden worden, doch so, auf diese Art und Weise? In den Wochen und Monaten, in denen sie spurlos verschwunden war, hab ich mir das Hirn zermartert. Und gerade als ich zu glauben anfing, dass sie sich was angetan haben musste, da holte man mich zur Identifizierung ab.« Sie lächelte. »Aber seit gestern weiß ich, dass sie lebt.«
Na gut, dachte Carina, und lehnte sich gegen das Telefontischchen. Der Tag der Lebensbeichten, erst Nusser, jetzt diese fremde Frau.
»Das Bild hier und das Haarbüschel, das ist alles, was ich noch von Rosa besitze. Alles andere hat das Amt mitgenommen.«
»Welches Amt?«, fragte Carina und bereute es zugleich. Mit jeder Frage schürte sie die Hoffnung, helfen zu können.
»Das Bundeskriminalamt. Ich dachte, die Münchner Polizei sucht sie, aber dann kam ein Beamter aus Wiesbaden. Ein Sicherheitsexperte, weil meine Schwester beim bayerischen Innenminister gearbeitet hat. Während ich hier wartete, haben sie unsere Wohnung durchwühlt, alles von ihr beschlagnahmt, sogar die Fotoalben, ihre Kleider und Bücher.«
»Wieso glauben Sie, dass Ihre Schwester noch lebt?«
»Weil ich sie gestern auf dem Königsplatz gesehen habe. Nicht mehr blond – und älter natürlich.« Sie sah zu Carina auf. »Eine Brille wie Sie trägt sie nicht mehr, vielleicht hat sie Kontaktlinsen. Aber im Alter hebt sich Kurzsichtigkeit ja oft auch auf.« Sie klopfte auf ihr rechtes Knie. »Seit ich eine Titan-Kniescheibe habe, kann ich nicht mehr rennen. Rosa ist runter zur U-Bahn verschwunden. Ich hab sie nicht erwischt.«
»Hat man Ihnen damals gesagt, was die Todesursache war?«
Frau Salbeck schüttelte den Kopf. »Sie hätte ein halbes Jahr in der Isar gelegen. Vielleicht ein Unfall – das sollte wohl ein Trost sein. Aber ich hab kapiert, dass das nur eine freundliche Umschreibung für Selbstmord war.«
»Wurde Ihre Schwester beerdigt?«
»Natürlich, aber wer weiß, um welches Grab ich mich da die vielen Jahre auf dem Ostfriedhof gekümmert habe. Grabnummer hundertsiebenundvierzig. Können Sie das nicht überprüfen und die Haare hier mit denen von der Toten da drin vergleichen?«
»Sie meinen … eine Exhumierung? Das geht nicht so einfach. Ohne Genehmigung eines Staatsanwalts oder Richters.«
»Haben Sie eine Schwester?«
Carina nickte.
»Jünger oder älter als Sie?«
»Jünger.«
»Dann wissen Sie, dass man sich immer um die Kleinere sorgt, egal wie alt sie ist.«
Sie hatte Carina ertappt. So oft sie sich über Wanda ärgerte, fühlte sie sich doch für sie verantwortlich. Jedenfalls plagte sie das schlechte Gewissen, wenn sie es nicht tat. »Soviel ich weiß, ist es schwierig, aus abgeschnittenen Haaren eine DNA zu gewinnen. An ihnen haften meist keine Haarfollikel mehr und damit keine Zellen, wie zum Beispiel an ausgerissenem Haar.«
Frau Salbeck sah aus, als hätte man ihr den Stuhl
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