Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Nase. Vielleicht sah Frau Salbecks Schwester heute so ähnlich aus. Aber Carina war nicht zufrieden, das Zweidimensionale lag ihr nicht sonderlich. Sie beschloss, morgen Knetmasse zu kaufen und schrieb sie gleich auf die Einkaufsliste. Endlich, nachdem sie den Schlafsack aus einem Kokon in eine Decke verwandelt hatte, konnte sie einschlafen. Doch im Traum kroch der weiche Stoff wieder um ihren Körper, wurde zu einer Blechkarosse und begann zu glühen. Sie klemmte fest und erwachte mit aufgerissenem Mund. Ein Schrei klang ihr in den Ohren. War sie das gewesen? Hoffentlich beschwerte sich nicht gleich ein Nachbar. Wieder hatte sie es im Traum nicht geschafft, sich aus dem brennenden Wrack zu befreien. In Wirklichkeit war sie in letzter Minute entkommen.
Lars hatte zu dem Zeitpunkt längst das Weite gesucht. Später erfuhr sie, dass er nicht Hilfe geholt hatte, wie sie zuerst vermutete, sondern sich einfach nur in der nächsten Kneipe volllaufen ließ. Er hatte sie für tot gehalten.
Dritter Tag
… auch an die wenigen sehr schönen und kalten Frauen, deren Gesichtszüge oft einen raubgierigen Ausdruck annahmen und das trotzige Verlangen zeigten, dem Leben mehr abzuringen, als es zu geben vermag; diese Frauen waren launisch, nicht mehr jung, unklug und herrschsüchtig, und wenn Gurows Leidenschaft sich abkühlte, so erregte ihre Schönheit in ihm nur Hass, und die Spitzen an ihrer Wäsche gemahnten ihn an Fischschuppen.
Aus Anton Tschechow: Die Dame mit dem Hündchen
14.
Müde und zerschlagen rief Carina am nächsten Morgen Frau Schauer an und bat sie, ihrer Chefin auszurichten, dass sie aus familiären Gründen etwas später käme. Am Sendlinger Tor traf sie sich mit ihrer Mutter, die abgehetzt von einer Zwillingsgeburt berichtete. Sie hatte es tatsächlich fertiggebracht, ihre Arbeit einer Kollegin zu überlassen. Aber sie müsste sich beeilen, das zweite Kind lasse noch auf sich warten, und sie habe der Frau versprochen, sie zu begleiten.
Ein Wunder, dass sie ihren Arzttermin nicht abgesagt hatte. Der Pickel musste schon sehr schmerzen. Carina hakte ihre Mutter unter und eilte mit ihr an der roten Matthäuskirche vorbei, die aus den sechziger Jahren stammte – aus der Zeit, als Rosa und Luise Salbeck klein gewesen waren. Bis zur Nussbaumstraße schilderte Silvia ausführlich die Geburt der vergangenen Nacht, samt Familienverhältnissen der Gebärenden und Verwandtschaftsgraden. Carina war froh, dass der Anblick der Steinfiguren über dem Hauptportal, Herkules im Kampf mit der Hydra, ihre Mutter verstummen ließ. Nun musste Silvia sich einmal nur um sich selbst sorgen, keine Schwangere weit und breit, die sie bemuttern konnte, dachte Carina und schob sie gleich neben dem Eingang zu zwei anderen Leuten in einen kleinen Aufzug. Bevor sich die Türen schlossen, rief sie ihr noch zu, dass sie die Treppe nehmen würde. Sie atmete auf, strich über die Kinderfiguren, die den breiten Handlauf zierten, und spurtete zur plastischen Chirurgie hoch. Der Tierarzt rannte fast in sie hinein. Er kam von oben und blieb nach dem Beinahe-Zusammenstoß dicht neben ihr stehen, als wäre vor und hinter der Stufe ein steiler Abgrund. Etwas erwachte in ihr, sie freute sich, ihn zu sehen. Mit den Augen fuhr sie die Linien seines Mundes nach und prägte sie sich ein. Er lachte sie an. Sie hatte das Gefühl, schon wieder rot zu werden.
»Willst du auch zu Frau Bretschneider?«, fragte er. Ach ja, ihr Vater hatte gesagt, dass sie hier operiert worden war.
»Ich dachte, du bist Tierarzt?« Er roch nach Bier, von einem Weißbier zum Frühstück oder einer durchzechten Nacht? Sie wich fast unmerklich zurück, von Alkoholikern hatte sie die Nase voll. Seine Haut wirkte durch die Bartstoppeln dunkler. Hatte er in seinen Klamotten geschlafen, und waren ihm obendrein die berühmten Vertuschungs-Pfefferminzbonbons ausgegangen? Sie machte einen Schritt und noch einen, stand jetzt zwei Stufen weiter oben.
Er berührte sie kurz an der Hand, wie ein Kater, der um die Beine streicht. »Clemens«, stellte er sich vor. »Mit C, genauso wie Carina, oder?«
Er hatte sich ihren Namen gemerkt. Clemens, so hieß der schielende Löwe bei Daktari, ihrer Lieblingsserie als Kind.
»Eva Bretschneider weigert sich, den Hund einschläfern zu lassen«, sagte er. »Aber wer will schon einen Dogo, der einen im Schlaf anfällt und zerfleischt?«
»Du glaubst allen Ernstes, der Hund hat sein Frauchen gebissen und ihr im Blutrausch gleich das halbe Gesicht
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