Die Gesichtslosen
Väter. Vielleicht war ihrer Ga und der ihrer Schwester kam aus dem Norden», überlegte Vickie.
«Kann sie nicht einfach gelogen haben?» fragte Aggie. «Was tut eine Diebin nicht alles, um Mitleid und Sympathie zu erregen. Sie hatte ja auch Erfolg damit und dich dazu gebracht, ihr sogar Geld zu geben, Kabria. Stimmt doch, oder?»
«Ich hatte ihr das Geld schon gegeben, bevor sie das sagte.»
«Dann gibt es nur einen Weg, dem Ganzen auf den Grund zu gehen, nicht wahr?» folgerte Dina.
Alle Blicke ruhten jetzt auf Kabria. «Ich fürchte ja», stimmte sie zu.
«Sollten wir nicht die Polizei einbeziehen?» gab Vickie noch zu bedenken.
«Harvest FM hat denen die Informationen schon weitergeleitet, ob die damit allerdings etwas anfangen, ist eine andere Frage», erklärte Dina. «Wenn du mich fragst – ich kann mir nicht vorstellen, daß unsere überlastete Polizei jemanden freistellt, der herausfindet, ob es sich bei dem toten Mädchen tatsächlich um ein Mädchen handelt, das vor einer unerwünschten Ehe geflohen ist, oder einfach um irgendeine Taschendiebin. Auch die müssen Prioritäten setzen, oder?»
KAPITEL 6
Kabria brach auf, um die Kinder abzuholen. Das Schulheft mit den PPAG-Broschüren hatte Fofo und alles, was mit ihr zu tun hatte, aus ihrem Bewußtsein verdrängt. Sie war sich darüber im klaren, daß sie Obea ein paar unangenehme Fragen stellen mußte. Und nicht nur das. Sie mußte sich darauf gefaßt machen, ein paar unangenehme Antworten zu bekommen. So ganz allein in ihrem Creamy fing sie insgeheim schon mal an zu üben:
Obea, ich bin deine Mutter, du brauchst dich also nicht zu genieren wegen… Nein, zu plump.
Obea, ich weiß, du bist jetzt in dem Alter, in dem wir, also du und ich, öfter über… Nein, zu lang. Zu umständlich. Warum um den heißen Brei herumreden, statt den Nagel auf den Kopf zu treffen.
Obea, sag mal: Was denkst du über all das Gerede von AIDS und Geschlechtskrankheiten und die Schwangerschaft von Teenagern. Findest du nicht, man könnte anfangen mit… Jesus! Kabria! Das ist ja furchtbar! So schimpfte sie mit sich selbst. Nein, nein, nein! Warum mußte sie gleich das Allerschlimmste von ihrer Tochter denken?
Okay, noch ein Versuch: Obea, als ich heute morgen in dein Zimmer gekommen bin, habe ich gesehen, wie du etwas unter dein Kopfkissen geschoben hast. Danach habe ich herumgeschnüffelt und das Heft mit den PPAG-Broschüren gefunden. Möchtest du, daß wir darüber sprechen?
Nicht schlecht. Aber was, wenn Obea statt mit dem erhofften «Ja» mit «Nein danke» antwortete? Man wußte nie in Obeas Alter. Die Kinder heutzutage waren völlig anders. Als sie in ihrem Alter war, wartete man die Fragen der Eltern ab, bevor man antwortete. Und dabei hielt man die Hände im Rücken verschränkt und stand mit gesenktem Kopf, um Respekt zu bezeugen. Ihre Kinder blickten ihr direkt ins Gesicht und hatten schon Antworten parat auf Fragen, die sie sich gerade erst ausdachte. Sie sprachen locker Dinge aus, von denen sie nicht wagte, sich auch nur vorzustellen, so etwas zu ihrer Mutter gesagt zu haben. Ihre Mutter hatte nie über Jungens mit ihr gesprochen, ganz zu schweigen von Sex. Sie lebte, so schien es, in der Vorstellung, daß Kabria mit keinem Mann auch nur sprechen würde, bis zu dem Tag, an dem sie heiraten sollte. Sofern der Heilige Geist ihr irgendwie den passenden Bräutigam zur Seite stellen würde, mit dem sie ihr «Jawort» tauschen konnte. Und obwohl Kabria alles zum ersten Mal tun und sagen und lernen hatte müssen, hatte sie es perfekt hingekriegt. Na ja, so war das damals eben. Heute mußten ihre Kinder mit einer Bedrohung wie AIDS leben. Worüber ihre Mutter damals nicht reden brauchte, war für Kabria bei ihrer heranwachsenden Tochter ein Muß.
Sie entdeckte Obea sofort, als sie am Schultor ankam. Sie saß mit ein paar Klassenkameradinnen unter einem Baum, sie schienen vertieft in ein intensives Tête-à-tête. Worüber sprachen die? Über ihren Schwarm? Sie rief sich zur Ordnung: Das hier ist eine andere Generation, Kabria. Es ist Obeas Generation. Sprich mit ihr. Und mach dich nicht unglücklich mit Verdächtigungen. Finde heraus, was los ist. Sie atmete tief durch und blickte sich um. Essie spielte mit einer Freundin in der Nähe und schien von Kabrias Auftauchen nicht gerade begeistert. Sie hätte offensichtlich gerne noch ein bißchen weitergespielt. Ottu war weit und breit nicht zu sehen. Kabria hoffte inbrünstig, er würde sie bald
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