Die Gesichtslosen
Sie überlegte, was sie als nächstes tun konnte und wo in Agbogbloshie sie möglicherweise auf Fofo treffen konnte. Und auch wenn der gesunde Menschenverstand ihr sagte, daß das nicht unbedingt der blaue Kiosk sein mußte, machte sie sich trotzdem auf den Weg dorthin. Der Rastafrisörsalon-Kiosk stand auf vier circa 50 Zentimeter hohen Eisenteilen an den Ecken, alte Autoteile offenbar. Der so entstandene Hohlraum hatte sich in eine Müllhalde verwandelt, ein Hafen für Fliegen und Mücken in allen Größenordnungen. Kabria beobachtete diesmal alles ganz genau. Wie gestern machten die Leute kurz halt, um sich die Stelle anzusehen. Hin und wieder bildete sich eine kleine Menge, doch sonst gingen alle ihrem gewohnten Tagwerk nach. Ein notdürftig ausgehobener, mit Algen übersäter Rinnstein neben dem Kiosk stank fürchterlich, literweise wurde er täglich mit Urin begossen. Das verstärkte noch den elenden Eindruck dieser Umgebung. Kabria folgte einem Impuls und betrat den Kiosk. Innen war er in einem helleren Blau gestrichen. Die Wände waren dekoriert mit Fotos von Frauen, die verschiedene Arten von Zöpfen trugen. Aus einem riesigen Sony-Ghettoblaster dröhnte Kohi Antwis «Tom and Jerry». Für den Kopf, der im Rhythmus hoch und runter ging, schien das alles normal zu sein: der Dreck, der Gestank und das alles. Er hatte sich offenbar daran gewöhnt und sich mit der Situation abgefunden, mit der er tagein, tagaus konfrontiert war, und so schockierte und kümmerte die Verwahrlosung ihn schon gar nicht mehr.
Kabria mußte unwillkürlich an eine Geschichte denken, die sie mal in einer Klatschillustrierten gelesen hatte. Es ging um einen Verrückten, irgendwo in Accra Central, der auf die Frage, was er gerade esse, immer nur antwortete: «Gebratenen Reis.» Tatsächlich aß er ständig Essensreste vom Müll. Das trug ihm den Spitznamen Gebratener Reis ein. In den vielen Jahren, in denen sich Gebratener Reis von diesem verfaulten Essen ernährte, wurde er niemals krank. Und eines Ostermontags folgte eine gutherzige Kirchgängerin dem Aufruf ihrer Kirche, den Obdachlosen und Armen über die Feiertage etwas zu essen zu geben, und bot Gebratener Reis einen schönen Teller mit selbstgekochtem Essen an. Der Verrückte schlang das Essen gierig herunter, zur Freude der Zuschauer. Wenige Minuten später schlug sich Gebratener Reis in Panik gegen die Brust. Er hielt sich den Bauch, krümmte sich und übergab sich, das ganze gute hausgemachte Essen kam wieder raus. Wenn Agbogbloshie eines Tages sauber gefegt wäre, die Rinnsteine vom Schlamm befreit und die Müllberge beseitigt wären, fragte sich Kabria, würden dann nicht alle hier sofort eine Bronchitis bekommen? Sie erkannte die Saloninhaberin an deren überdimensionalem Portrait in der Ecke. Sie mußte für Mutter Natur Rätsel und Herausforderung zugleich sein. Denn wenn man ihr, Mutter Natur, unbotmäßig ins Handwerk pfuscht, dann hat das offenbar gräßliche Konsequenzen. Die Frau hatte ihre Haut von Kopf bis Fuß gebleicht, was unseren unbestechlichen Schöpfer so verärgert haben mußte, daß er es ihr entsprechend heimgezahlt hatte. Schließlich hat er ja die Afrikaner bewußt mit ausreichend Melanin ausgestattet, damit sie die starke Sonneneinwirkung aushalten. Und diese Frau, die es wagte, sich da einzumischen, war jetzt hell vom Gesicht bis zu den Knöcheln, aber dunkel an den Füßen, die sich einfach dem Diktat ihrer bleichenden Seifen und Cremes verweigerten. Um die Augen herum, an den Wangen und Unterarmen war sie bläulich-lila. Sie sah aus wie eine bunte Parodie auf die ursprüngliche Handwerkskunst von Mutter Natur. Ihr gestrafter Körper ruhte in einem ebenso süßen wie unvorteilhaften ärmellosen Kleid, während ihre sturen Füße in einem Paar feiner weißer Slipper triumphierten. Ihr Parfüm vertrug sich so gar nicht mit einer Haut, deren äußere Schutzschichten sich einem Peeling unterzogen hatten. Ihr zur Seite standen acht junge Auszubildende.
«Tut mir leid», sagte sie, als sie Kabria endlich bemerkte. «Sie hätten früher kommen müssen. Wir sind komplett ausgebucht für heute. Können Sie morgen wiederkommen?»
Kabria grüßte laut zurück: «Guten Morgen.»
Die Salonbesitzerin blickte Kabria scharf an.
«Ich bin nicht gekommen, um mein Haar flechten zu lassen, Madam», ratterte Kabria los, um nicht gleich wieder rausgeworfen zu werden. «Ich komme von einer Organisation namens MUTE.» Sie hielt ihr den Dienstausweis
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