Die Gesichtslosen
entdecken und erscheinen. Aber er war immer noch nicht in Sicht, als Obea und Essie schon mit ihren Schultaschen zum Auto kamen. Kabria bat Essie, bei Creamy zu warten und machte sich zusammen mit Obea auf die Suche. Obea wollte im Klassenzimmer nachschauen, während Kabria am Schultor wartete. Kurz darauf schon kam Obea mit Ottu zurück.
«Warum warst du nicht draußen?»
«Du bist zu spät gekommen», gab Ottu zurück.
«Das ist keine Antwort auf meine Frage!»
Ottu runzelte die Stirn und knurrte: «Nur weil du zu spät kommst, sagt Essie, ich wäre frech.»
Kabria blickte finster drein.
«Was hat das damit zu tun, daß ihr euch streitet?»
Ottu zeigte auf Essie und heulte: «Sie hat gesagt, ich wär böse.»
«Ja», quengelte Essie. «Weil du…»
«Schluß jetzt!» unterbrach Kabria. «Ins Auto mit euch, alle beide!» Und auf einmal war da alles gleichzeitig, Creamy, das Drama mit Fofo, das Schulheft mit den PPAG-Broschüren – alles stürzte auf sie ein. Sie fühlte sich einfach überfordert. Sie verlor die Nerven und ließ alles an Obea aus. «Hättest du nicht auf sie aufpassen können? Was hast du denn da eigentlich mit deinen Freundinnen besprochen?»
Obeas Gesicht verdüsterte sich. «Schularbeiten, Mum.»
«Und was ist das da in deiner Tasche?»
«Ein Buch, Mum.»
«Was für ein Buch?» zischte Kabria.
Obea zog es wortlos heraus.
«Ein Textbuch? Naturwissenschaften – leicht gemacht?»
«Was hast du denn erwartet, Mum? Ein Schulheft vielleicht?»
Das saß. Obea wußte also Bescheid. Sie hatte herausgefunden, daß Kabria die Broschüren unter ihrem Kissen entdeckt hatte. Was hatte sie gerade noch gedacht? Es war eine andere Generation… die Zeiten hatten sich geändert… die geben schon Antworten, wenn ihre Eltern noch die Fragen formulieren…! Creamy mußte ihre Erschöpfung bemerkt haben, denn er reagierte beim ersten Umdrehen des Zündschlüssels. «Danke, Creamy», sagte Kabria unhörbar. Wäre sie allein im Auto gewesen, hätte sie es ohne Gewissensbisse laut ausgesprochen. So streichelte sie nur Creamys Armaturenbrett wie den Rücken eines glucksenden Babys.
Zu Hause angekommen, ging sie direkt ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Die Kinder taten das gleiche in ihren Zimmern. Und während Kabria in der Küche das Abendessen vorbereitete, machten sie sich an ihre Hausaufgaben. Ihre Haushaltshilfe Abena hatte den Fisch bereits geschuppt. Das Gemüse köchelte schon auf der einen Herdplatte, der Reis auf einer anderen. Kabria mußte sich jetzt auf ihre Haushaltspflichten konzentrieren, dabei konnte sie sich wieder sammeln. Sie schnitt den Fisch in Stücke, salzte und pfefferte ihn und erhitzte das Öl in der Pfanne.
«Mum», rief Ottu und kam in die Küche. «Was ist das?» Er hielt ein Lesebuch in der Hand und zeigte auf ein Wort.
«Buchstabier es mal», schlug Kabria vor und fuhr fort, den Fisch vorsichtig in die Bratpfanne zu legen.
«F-e-r-1-a-s-e-n.»
«Verlassen?»
«Was bedeutet das?»
«Es bedeutet, etwas da zu lassen.»
«Also, wenn ich mein Lesebuch hierlasse, dann verlasse ich es?»
«Nicht ganz, Ottu. Wenn du es hier läßt und gar nicht mehr holen willst, dann ist es das: verlassen. Frag Obea, sie kann es dir genauer erklären.»
«Sie sagt, sie muß jetzt ihre eigenen Hausaufgaben machen.»
«Sag ihr, ich hätte gesagt, sie soll dir helfen, bitte, weil ich hier zu tun habe. Ich kümmere mich später drum.»
Unter Protest verließ Ottu die Küche.
Abena wusch das Geschirr ab. Kabrias Gedanken gingen wild durcheinander. Vor ihren Augen erschien ein totes Mädchen, das hinter einem Kiosk gefunden worden war, das bei der Beerdigung nicht in seinem Sarg liegen bleiben wollte. Wenn Geister manchmal ihrer eigenen Beerdigung zuschauten, wie behauptet wurde, wie würde ein Geist es auffassen, wenn diejenigen, die sie auf ihrem letzten Weg geleiteten, nicht etwa Verwandte und liebe Menschen waren, sondern nur ein paar mürrische städtische Bedienstete, die ihren Job so schnell wie möglich zu Ende bringen wollten? Sie rührte den Gemüseeintopf um, sah nach, wie lange der Reis noch brauchte, und wendete den Fisch in der Pfanne. Sie dachte nach über diesen Tag, der wie alle Tage mit Arbeit begonnen hatte und wie immer mit Arbeit, noch mehr Arbeit, endete.
Einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung zufolge arbeitete die afrikanische Frau durchschnittlich 67 Stunden pro Woche, der Mann hingegen nur 55. Wer war nun das schwächere Geschlecht? Sie rief
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