Die Gespenster von Berlin
Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden und die Schlüssel den Stockwerken und den Räumen zuzuordnen. War es der rechte oder linke Gang, vom linken oder rechten Treppenhausbereich kommend? Die Architektur war so verwirrend, dass selbst sie, die hier seit Jahren täglich ein und aus ging, sich mit Hilfe von Trial & Error orientieren musste. Dieses Haus war von einem Königskind erdacht worden, das kein Zepter, sondern ein Lineal in der Hand hielt, aber dazu später mehr.
Das Atelier, in dem der Schwede Henrik Håkansson gewohnt hatte, stand leer. Wir rekonstruierten Håkanssons Bericht über den greisen Geist in der langen Unterhose, der schließlich durch die Wand verschwand. Wir setzten uns an den Schreibtisch, wir starrten aus dem Fenster. Der Raum spiegelte sich tatsächlich im Glas. Wo und wie war der Geist aufgetaucht? Mareike Dittmer schritt den Raum ab und entdeckte, dass es zwischen den Atelierräumen einst Durchgänge gab, die nun zugemauert waren. Undwirklich, an den oberen Türbogen waren sie noch zu erkennen. Diese ehemaligen Durchgänge erlaubten es den pflegenden Schwestern von Bethanien, schnell von einem Krankensaal zum nächsten zu huschen, ohne zurück auf den Flur zu müssen. Der Geist ist also durch einen ehemaligen Durchgang gekommen und er hat das Atelier durch einen anderen ehemaligen Durchgang wieder verlassen. Wenn man annimmt, dass das Schicksal dieses Geistes irgendwie ortsgebunden ist, dann könnte man davon ausgehen, dass Henrik Håkansson in jener Nacht, als es plötzlich so eiskalt wurde, einen ehemaligen Patienten gesehen hat. Ein alter Mann in langen Unterhosen. Für einen Patienten zwischen 1847 und 1970 eine denkbare Bekleidung. Man könnte aber auch auf die Idee kommen, dass Håkanson Zeuge eines zeitparadoxen Phänomens wurde: wenn Gegenwart und Vergangenheit sich für einen kleinen Moment überlagern. Abgebildet zur Mitternacht im Glas des Fensters von Bethanien. – Das war ein unerwartet schnelles Ergebnis, das uns alle furchtbar kichern ließ. Frau Schulte-Fischedick konnte auch im Kichern nicht verbergen, dass dieser Raum ihr nun mehr als unheimlich vorkam. Ganz schnell verschloss sie die Tür.
Wir wurden dem Nachtwächter vorgestellt, der gerade seinen Dienst begann. Sein Raum war im Erdgeschoss, beim Haupteingang. Ab 22 Uhr war das Haus zugeschlossen, und mindestens einmal pro Stunde musste der Nachtwächter das Haus abgehen, alle Seiten und Zugänge kontrollieren, ob nicht jemand eingedrungen war. Die Diebstähle seien nach wie vor ein großes Problem. Frau Schulte-Fischedick erzählte dem Mann von ihrem geklauten Laptop. Der Nachtwächter fragte uns, was wir hiervorhätten. Da wir angehalten waren, über unsere Mission nichts zu verraten, scherzten wir, wir seien Wünschelrutengänger. Frau Schulte-Fischedick ließ uns dann in dem kärglich möblierten Studio von Nathalie Latham zurück, und wir kicherten noch mal kräftig zum Abschied. Geisterjagd, oh kicher-kicher. Es war erstaunlich, welch mädchenhaft alberne Töne das Zwerchfell unablässig absondern kann, solange es sich nicht auf eine Schwerpunktempfindung festlegen muss, solange sich die Angst nicht durchsetzt. Im Nachhinein fragt man sich, ob nicht das Gekicher als Geräuschmaterial für die Tonaufnahmen aus dem Jenseits hätte dienen können. Aber daran dachten wir in jener Nacht nicht.
Mareike Dittmer stellte die Geräte auf den Ateliertisch und holte eine Schüssel und eine Kanne voll Wasser aus dem Küchenvorraum. Bis zur Mitternacht wollten wir die Hausgeister so weit für uns interessiert haben, dass wir sie befragen konnten. Vielleicht würden es die gleichen Geister sein, die einst die Blumenvasen zum Platzen gebracht hatten. Wir schalteten den Weltempfänger an und hatten unverschämtes Glück. Das Vokalensemble »Camerata Limburg« sang Männerchorwerke. Wir hörten »Schöne Nacht« und waren verzaubert von den berückenden Stimmen. Ein lyrisch-wehmütiger Männerchor, der ganz sicher Heere von Geistern anlocken würde. Kommt herbei, ihr Täubchen, kommt herbei. Denn waren Geister nicht vor allem sentimentale Wesen? So verging etwas Zeit. Wir zündeten Kerzen an, wir tranken das alkoholfreie Bier und schwatzten. Als wir die Toilette aufsuchten, trafen wir eine Frau im Gang. Sie hatte kurzes, rotes Haar und lächelte sympathisch. Ob wir die Neuen seien, fragte sie uns. Sie sei diekanadische Stipendiatin Cynthia Girard aus Québec. Diese Mitteilung war mehr als glaubhaft, ihr Englisch hatte einen
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