Die Gespenster von Berlin
starken französischen Akzent. Sie lud uns in ihr Studio ein und zeigte uns fünf Stabheuschrecken, die in einem Terrarium aus Holz und Glas lebten, das auf einem Sockel mitten im Raum stand und mit einem schwarz-weißen Muster aufwendig bemalt war. Wir standen vor dem Terrarium und staunten über die merkwürdigen Insekten, die aussahen wie eine Kreuzung zwischen Blatt und Ast. Auf Cynthias Schreibtisch stand ein weißes Gespenst, eine Kerze, ein neckisches Halloween-Produkt, wie es spätestens ab Ende September in Kaufhäusern und Drogerien zu finden ist. Das brennbare Gespenst führte unverfänglich zu der Frage, ob man sich nachts fürchten müsse. Spukt es?, fragten wir Cynthia Girard. Sie sagte, sie habe von Gespenstern noch nichts bemerkt. Sie wisse aber, dass hier darüber geredet werde, irgendwo gebe es einen alten Leichenkeller, in dem es spuken solle. Sie wendete sich wieder den Stabheuschrecken zu, die sie »meine Freunde« nannte. Sie sei ganz in den Norden Berlins gefahren, zu einer ärmlich lebenden Familie in einem Hochhaus, um die Insekteneier zu kaufen. Fünfzig Cent hätte der kleine Junge, der die schrecklichen Viecher züchtete und im Internet zum Verkauf angeboten hatte, für ein Ei verlangt. Sie sagte, dass ihre Stabheuschrecken Hermaphroditen seien, die sich schälen und ihre eigene abgeschälte Haut auffressen. Als Nahrung bekämen sie Eichenlaub vom Mariannenplatz, und man müsse das Laub und die Umgebung mit einem Sprüher feucht halten. Sie erzählte, wie sie in Kanada eines Nachts davon geträumt hatte, in Berlin Stabheuschrecken zu halten. Sie hatte den Traum umgesetzt, obwohl sie sich zunächst gefürchtet hatte.
Nach diesem Vortrag über ihre fünf Freunde durften wir uns ihre Malereien, Zeichnungen und die Wandbehängungen aus Postkarten und Zeitungsschnipseln ansehen. Schwarz-weiße Porträtabbildungen von Emily Dickinson und Henry David Thoreau gaben den Wänden dunkle Augen. Cynthia Girards Malereien hatten große Formate, sie zeigten Stabheuschrecken, Blumen, Kuckucksuhren. – Kuckucksuhren? Hatte die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood in ihrem Essay »Negotiating with the dead« nicht geraten, man solle bei einer Gespensterjagd auf Uhren achten?
»And once you’ve got clocks, you’ve got death and dead people, because time, as we know, runs on, and then it runs out, and dead people are situated outside of time, whereas people are still immersed in it.«
Gab es hier etwa doch ein Gespenst? Versteckt zwischen Gespensterkerze und Terrarium? Margaret Atwood hätte ihrer etwas unheimlichen Landsmännin vielleicht deutlicher auf den Zahn gefühlt. Doch Moment einmal – einen Menschen als unheimlich zu bezeichnen ist wirklich problematisch. Der Song »Another Brick in the Wall Part II« von Pink Floyd war unheimlich, man bekam eine Gänsehaut davon, auch wenn man das »Hol ihn, hol ihn unters Dach« nicht hörte. Der Song klagt und schreit, erzählt von Gewalt gegen Kinder, von Brutalität in der Schule. Musikalisch wird dieses Bild mit Kinderchören und Maschinenklängen, Monotonie im Rhythmus, Appellen untermalt. Die Botschaft ist klar, verbirgt aber doch etwas. Die Legende ist Ausdruck der Unheimlichkeit, die vom Song ausgeht. Die Legende macht explizit, was der Song als Phantasie offeriert. Es ist nicht unraffiniert, diese Phantasie an eine Legende zu delegieren. Aber eine Legende, diesich um deutsche Päderasten und Satanisten, missbrauchte englische Schüler, eine nichts ahnende Band Pink Floyd und einen großen Dachboden rankt, klingt doch alles andere als glaubhaft. Ausgehend von dem unheimlichen Song könnte man sagen: Unheimlichkeit ist eine Art Verschlossenheit, die durch ihre Ästhetik stabil ist. Einfacher gesagt: Unheimlichkeit ist schön verschlossen. Das Unheimliche aufzudecken könnte also unschön sein. Es könnte nicht gefallen, es könnte sich schal anfühlen. So schal, dass man das Ergebnis ablehnen könnte, da es so lächerlich erscheint.
Zurück ins Studio von Cynthia Girard. Wenn Cynthia Girard nicht unheimlich war, was dann? Gab es etwas anderes? Sogar meine Gefährtin Mareike Dittmer wirkte gehemmt. Diese leidenschaftliche Sammlerin von Netzwerken hätte im Normalfall längst mit den zwanghaften Verbrüderungsgeschichten begonnen, zumindest Telefonnummern ausgetauscht und ein gemeinsames Mittagessen vorgeschlagen. Aber nichts dergleichen. Was war so unheimlich an Cynthia und ihrem Studio? Dies Geheimnis sollte zu einem späteren Zeitpunkt
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