Die Gespenster von Berlin
gelüftet werden, wir hatten es eilig. Die Mitternacht war schon längst angebrochen, so gingen wir in unser Atelier zurück und begannen mit den Geister-Interviews.
Das Tondokument offenbarte uns später unbarmherzig den Mangel an Phantasie und Gespür für die wirklich wichtigen Fragen. Statt zu fragen, wer hat John F. Kennedy erschossen, was geschah mit der kleinen Madeleine McCann in Portugal 2007 und soll ich vielleicht doch den Riester-Rente-Sparvertrag bei der Postbank kündigen, fragten wir:
»Wie heißt du?«
»Wie geht es dir?«
»Weißt du, wer wir sind?«
»Wo lebst du?«
Dabei plätscherte das Wasser aus dem Krug in die Schüssel. Darauf folgten Aufnahmen mit Radiorauschen und die gleichen Fragen noch einmal, ergänzt um die schlaue Frage: »Möchtest du Mareike Dittmer etwas Bestimmtes mitteilen?« – An dieser Stelle musste Mareike Dittmer lachen. Uns war gruselig und komisch zumute. Der Raum dunkel, einzig etwas Kerzenschein von Teelichtern. Wir waren auch schon recht müde und hatten noch kein Gespenst gesehen – so dachten wir jedenfalls. Als die Aufnahmen beendet waren, suchten wir den Leichenkeller. Den ehemaligen, natürlich. Da würden sie stecken, die Präsenzen, die dunklen, feinstofflichen Gestalten, Vasensprenger, Wimmerer und Abendbeter, die Greise in langen Unterhosen, die durch Wände schreiten. Wir gingen zum Nachtwächter, der gerade von seinem Rundgang zurückkam, und fragten ihn nach dem ehemaligen Leichenkeller, denn da müssten wir dringend hin.
»Sind Sie wirklich Wünschelrutengänger?«, fragte er.
Was sollten wir antworten? Die Gespensterstunde war um, die Nacht noch lang, Zeit für die Wahrheit. Der Mann verkraftete sie insgesamt sehr gut. Er habe noch kein einziges Gespenst gesehen, sagte er. Aber er halte natürlich nicht jede Nacht Wache. Er teile sich die Arbeit mit Kollegen. Er selbst habe mehr mit Junkie-Einbrechern zu tun, weniger mit Gespenstern. Und von einem Leichenkeller wisse er auch nichts, es gebe einen Wäschekeller, wo die Künstler ihre Sachen waschen können.
Aber irgendwas müssen Sie doch erlebt haben!, insistierten wir. Das sei doch kein Job wie jeder andere. Sie müssen irgendetwas Erwähnenswertes erlebt haben außer Junkie-Einbrechern, kackenden Hunden vor dem Tor, nachtaktiven Künstlern und deren Wäsche? – Er überlegte, dann fiel ihm tatsächlich eine Geschichte ein und wir schrieben mit.
»Eines Nachts kam ein alter Mann, der war bestimmt schon achtzig Jahre alt, er klopfte an das Tor, ich ließ ihn rein. Was wollen Sie hier, fragte ich. Er sagte, er sei Jude und habe in diesem Krankenhaus überlebt, er würde es gerne noch einmal sehen. Als junger Mann sah er keine Chance mehr, den Nazis zu entgehen. Seine Angehörigen waren deportiert, er hatte keine Freunde mehr, da machte er einen Selbstmordversuch. Er wurde schwer verletzt ins Bethanien eingeliefert. Eines Tages kam ein Mann mit einem Ledermantel und wollte ihn abholen. Eine Krankenschwester mischte sich ein und sagte, der Mann sei sehr krank und nicht transportfähig. Sie versteckte ihn, gab ihm Essen, und so überlebte er hier.«
Welch wundersame Geschichte der Nachtwächter zu murmeln wusste. Er war zwar, wie bei Berlinern üblich, im Erzählen recht geübt, doch er nahm sich keine Zeit für das Kleinod. Er leierte es schnell herunter. Aber der Nachtwächter zweifelte nicht am Wahrheitsgehalt und wir taten es auch nicht. Er hatte von dem Alten erfahren, dass ein Jude in Bethanien überlebt hatte – jeder Wahrscheinlichkeit zum Trotz, denn hier war man ja in der Höhle des Löwen. 1941 wurde das Diakonissen-Krankenhaus von der Gestapo beschlagnahmt. Fortan unterstand es der Geheimen Staatspolizei und viele Ärzte mussten an die Front. Man muss sich die Geschichte von der Rettung eines verzweifelten Juden in Bethanien unter diesen Umständenvorstellen: In einer Zeit ohne viel Männerpräsenz, großem Ärztemangel, unter der Aufsicht von Nazibehörden, wuchs eine Frau über sich hinaus und stellte sich dem Nazischergen entgegen.
Der Nachtwächter ging zurück zu Schlüsselbrett, Boulevardzeitung und Aschenbecher und wir setzten unsere Suche fort. Einen Leichenkeller fanden wir nicht mehr, und auch die Turmzimmer waren verschlossen. Wir schauten uns Graffiti an, Flecken an den Wänden, Veranstaltungsplakate, Kugelschreibergekritzel an Türen. Dann standen wir vor einer Apotheke aus dem 19.Jahrhundert, der so genannten Fontane-Apotheke. Sie verströmte ihren eigentümlichen
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