Die Gespenster von Berlin
führen zu Mary, wie sie so unschuldig und unbeteiligt im Bett liegt und schläft, während Helen Besuch von einer unbekannten Frau bekommt,die um Hilfe ruft – auf Englisch! Ich habe ja von Fällen gehört, bei denen Berliner Geister rücksichtslos Deutsch mit Ausländern quasseln, aber dass auf die Muttersprache der Bespukten Rücksicht genommen wird, wäre für Berliner Verhältnisse untypisch. Das lässt die Vermutung zu, dass es sich nicht um ein Berliner Geisterfräulein handelt. Die Auffassung, dass Spuk die Ausformung eines psychologischen Konfliktes ist, und dass es dabei sogar zu einer Verbindung von Psyche und Materie kommen kann, die physikalisch nicht kausal ist und auch nur von ganz bestimmten Personen ausagiert oder wahrgenommen wird, entspricht dem Erklärungsmuster eines Walter von Lucandou, der als Geisterforscher und parapsychologischer Berater in Freiburg praktiziert und entsprechende Fallgeschichten publiziert hat. Lucandou beschäftigt sich allerdings mit weitaus ärgeren Phänomenen als keuschen Geisterfräulein im Nachthemd, seine Sache sind eher Gegenstände oder Menschen, die durch die Luft fliegen. Bisher kam mir zwar noch kein einziger Fall unter, der zum Lucandouschen Modell passte, aber hier könnten wir ihn haben. Lucandous Ansatz profitiert vor allem von der Idee der Synchronizität, über die sich der Zürcher Psychologe Carl Gustav Jung mit dem Physiker und Nobelpreisträger (von 1945) Wolfgang Pauli in einem jahrzehntelangen Briefwechsel austauschte – der sogenannte Pauli-Jung-Dialog. Der Idee, dass es zwischen Materie und Psyche zu synchronen Vorgängen kommen kann, die nicht einem kausalen Prinzip folgen, konnten sowohl Pauli als auch Jung über den langen Zeitraum ihres Gedankenaustausches viel abgewinnen. Pauli glaubte zunächst, dass diese Phänomene auftreten, wenn sich Gegensatzpaare auszubalancieren versuchen. Er war damals von dem chinesischen Orakel »I ging« (Buch der Wandlungen) inspiriert, das in den 1920er Jahren in Deutschland durch den Sinologen Richard Wilhelm in Wissenschaftskreise eingeführt wurde; und gerade auch unter Naturwissenschaftlern Beachtung fand, die dem dynamischen, scheinbar auf Mathematik beruhenden System von Weissagung staunend gegenüberstanden. Jung erkannte im »I ging« ein fremdes Prinzip, das sich vom Kausalprinzip (eine Ursache hat eine Wirkung) abhebt, er nannte es »versuchsweise« das »synchronistische Prinzip« (C. G. Jung, Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 63, 66). Dabei kommen ein inneres Ereignis (ein Traum, eine Aufregung, eine Anspannung) und ein äußeres Ereignis (ein Unfall, ein Todesfall, ein besonderer Moment) – in vielen Fällen unabhängig vom Raum – gleichzeitig zusammen. Dieses Prinzip ist seither besonders in die Populärkultur eingegangen, in Liebesromane und Gruselfilme, bis hin zu den Jedi-Rittern der »Star Wars«-Saga, deren Beherrschung der »Macht« ohne Synchronizität nicht denkbar wäre. Synchron hieße zum Beispiel: eine Person hat einen schlimmen Traum (oder Kopfschmerzen, Herzrasen oder Atemnot), sieht auf die Uhr und erfährt am nächsten Morgen, dass zur gleichen Zeit ein wichtiger Mensch verstorben oder verunfallt ist oder sonst etwas Außerordentliches geschah. Die Synchronizität scheint auf vage, emotionale Weise plausibel, aber auch geheimnisvoll. Solche Erfahrungen machen viele Menschen auch im Alltag. Jung und Pauli versuchten, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen.
Der Psychoanalytiker Jung verknüpfte die Synchronizität mit der Idee von den Archetypen, die in symbolhaften Bildern, Träumen und Mythen erfahren werden (Phallus, Engel, Urmutter etc.). »Die Archetypen«, schrieb Jung anPauli, »sind einerseits Ideen (im platonischen Sinn), andererseits direkt mit physiologischen Vorgängen verknüpft, und in Fällen von Synchronizität erscheinen sie als Arrangeure physischer Umstände, so dass man sie auch als eine Eigenschaft des Stoffes (als eine Sinnhaftigkeit desselben) betrachten kann.«
Dieser Exkurs führt uns nun zu der schönsten Auffälligkeit in Helens Schilderung, zum Nachthemd. Es kann eine Metapher für den Tod wie für den Schlaf sein, Gespenster tragen es als letztes Hemd. In Helens Fall kommt eine sexuelle bzw. erotische Komponente dazu. Ist es vermessen, das Geisterfräulein als Gestalt der Verlockung und Verführung zu sehen? Sowohl Mary als auch Helen mag insgeheim der Gedanke beschäftigen, ob der Versuch einer Familiengründung mit einer anderen Frau besser glücken
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