Die Gespenster von Berlin
könnte. Ich mag den Spuk nicht allein Mary und ihrem Schwangerschaftsdilemma in die Schuhe schieben (die Kinderschuhe!), damit wir uns nicht missverstehen. Denkbar ist, dass das Wohnhaus selbst bestimmte Eindrücke und Alpträume hervorbringt. Dass es Bilder ans Licht bringt, weil diese Bilder vorhanden sind, seit über hundert Jahren. Was ich damit sagen will? Dass die Geschichte damit noch nicht ganz zu Ende ist.
Nachdem ich die Wohnung von Helen und Mary verlassen hatte, nahm ich im Treppenhaus zwei Wandfriese wahr, die Kinder zeigten, die römische Gewänder trugen. Kinder mit einer Toga! Das erste Wandbild zeigte die Kinder von der Seite, sie schauten zusammen in ein Buch. Sangen oder lasen sie? Das andere Wandbild zeigte zwei Kinder, auch sie trugen die Toga, in den Händen hielten sie ein Tuch. Möglicherweise ging es hier um eine Toga-Initiation für Kinder, Derartiges war im Römischen Reich üblich. Hinter diesen Wandbildern befand sich übrigens Helens Schlafzimmer. Die Friese waren von Anfang an im Haus, das zwischen 1908 und 1910 gebaut worden war, zur gleichen Zeit wie die Grundschule nebenan. Es wurde aber nicht, wie man meinen könnte, als Lehrerhaus genutzt, sondern von Anfang an als gewöhnliches Wohnhaus, wie mir ein Blick in das Berliner Adressbuch zeigte. Drei Witwen, ein Schneider, ein Postassistent, ein Postbote und ein Beamter waren die ersten Bewohner. Für sie und die meisten anderen, die nach ihnen in diesem Haus wohnten, waren die Kinder in ihren römischen Togen vermutlich nicht mehr als eine einigermaßen geschmackvolle Dekoration. Doch für Helen und Mary? Ich klingelte noch einmal bei Helen. Ich zeigte ihr die Friese. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Es war verrückt. Sie hatte diese Bilder nie zuvor gesehen.
Der Hausentstörer
Herr Neumann befreit Häuser von Geistern, Hausentstören ist sein Beruf, davon kann er seine Familie, zu der drei Kinder gehören, ernähren. Geister sagt er nur manchmal zu dem, was er in den Häusern antrifft, meist spricht er von »Besetzungen«. Und er befreit die Häuser nicht von ihren Besetzungen, wie die Guten die Hilflosen vom Bösen befreien, er reinigt sie. Und er reinigt sie nicht, wie Putzfrauen die Wohnungen des Bürgertums vom Schmutz reinigen, er lenkt nur ein bisschen von den Gedanken, Träumen und Störungen ab, die sich in den Räumen eingenistet haben und sich von den Bewohnern selbst nicht vertreiben lassen. Ich schickte ihm zunächst eine E-Mail: »Lieber Herr Neumann, entschuldigen Sie meine Anfrage, aber haben Sie professionell mit Gespenstern zu tun?« Umgehend kam die Antwort: »Eindeutig ja!« Er nannte mir seine Adresse: Er wohne am »Bau der Beredsamkeit« (bei der Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg), seine Hausnummer drei bedeute »Universum« (ein behutsam saniertes Mietshaus) und die Kirche sei der Garten Eden (die Praxis liegt im Erdgeschoss). Kosmische Angeberei! Aber Herr Neumann war dann doch ein sympathischer Mann, im mittleren Alter, mit sportlicher Ausstrahlung, aus Bayern stammend. Zwischen der Arbeit eines Hausentstörers und einer Geisterreporterin sah er eine Übereinstimmung »von eins zu eins«. Aber das muss ich zurückweisen, obwohl Ähnlichkeiten bestehen. Beide arbeiten wir mit der Sprache. Doch der Hausentstörer interessiert sich vor allem dafür, wie er einen Spuk loswird. Die Geisterreporterin aber will so viele Spuren wie möglich sichern, um am Ende zu einer Geschichte zu kommen. Da braucht es viel Neugier. Dem Hausentstörer aber ist Neugier fremd, was sollte er auch mit den Geschichten von Menschen und ihren Orten anfangen? Die fehlende Neugier macht ihn zu einer professionellen, spiritistischen Reinigungskraft. Putzfrauen interessiert auch nicht, warum eine Wohnung dreckig ist. Sie sollen den Dreck wegmachen, nicht kommentieren. Kann der Hausentstörer dann überhaupt etwas über die Gespenster von Berlin erzählen?
Einmal bekam er den Auftrag, sich die Villa eines Immobilienhändlers im Grunewald anzusehen. 250 Quadratmeter Wohnfläche, ein Schwimmbad, ein Büro, ein Teich mit Fröschen und Fischen. Immobilienhändler wollen von Geistern und bösen Besetzungen normalerweise nichts wissen, erstens glauben sie nicht daran, und zweitens wirken die sich im Zweifelsfall eher geschäftsschädigend aus. Aber dieser Mann wurde sehr krank und seine Ehefrau überredete ihn, den Hausentstörer kommen zu lassen. Sie hatte eine Anzeige von Herrn Neumann in einer Esoterik-Zeitschrift gesehen.
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