Die Gespenster von Berlin
deutschsprachiger Literatur und ihrer Übersetzung, überbrückte die Ratlosigkeit.
»Kann ich die Wohnung sehen? Jetzt?«
Überrascht, dass Helen bereit war, aus dem Frühstücksraum hin zum Schlafzimmer des Geschehens zu wechseln, dankte ich ihr und merkte an, wie selten es doch geworden sei, dass man sich Zeit füreinander nimmt. Alle seien doch damit beschäftigt, Mauern um die eigene Zeit zu bauen. Ich war wohl selbst überrascht, dass ich bereit war, weitere Stunden in die dünne Story zu investieren. Die Wohnungsbesichtigung aber änderte meinen Eindruck, dass an der Geschichte gar nichts dran war.
Auf dem Weg erzählte Helen von ihrem Vorhaben für Berlin, das sie »eine neue Offenheit« nannte, a new openness , ein seltsamer Ausdruck, der wenig später an Mehrdeutigkeit nur zunahm. Sie wolle nicht den Fehler begehen, sagte sie, den alle Expats in Berlin machten. Sie wolle »respektvoll« in Berlin leben, was für sie hieß: Deutsch zu lernen, die Berliner Geschichte zu erkunden und deutsche Freunde zu finden. Dass die neue Offenheit ihr gleich den Besuch eines Geisterfräuleins im cremeweißen Nachthemd bescherte, sei nicht gerade ein nettes Erlebnis, oder?
»It didn´t frighten me!«, sagte sie.
Bevor wir uns ihrer Wohnung zuwenden, muss ich das eindrucksvolle Schulgebäude erwähnen, das an Helens Wohnhaus grenzt. Erbaut von 1908 bis 1910 unter der Federführung des einflussreichen Architekten Ludwig Hoffmann, der während seiner langen Karriere als Berliner Stadtbaudirektor (1896-1924) in einer Phase enormer städtischer Expansion und sozialstaatlicher Aufgaben über hundert öffentliche Anlagen – Schwimmbäder, Schulen, Heime, aber auch den wundersamen Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain – mit über 300 Einzelbauten errichtete. Dabei erlaubte er sich Eigenheiten und Liebhabereien, dachte beispielsweise an die Belange der Kinder. Er hatte ein Faible für die Arbeit süddeutscher Bildhauer und Steinmetze, die für ihn volkstümliche Skulpturen anfertigten (Ignatius Taschner und Josef Rauch, die nach Motiven aus Grimms Märchen Skulpturengruppen für den grandiosen Märchenbrunnen schufen). Hoffmann wollte an diesem Standort eine Grundschule gestalten, in der die Kinder viel Licht hatten, sich gerne aufhielten, und vor der man auch verweilen konnte – was der deutschen Rektoren-Mentalität sauer aufstieß, wie sich Hoffmann in seinenMemoiren mokierte: »An der Straße hatte ich bei diesem Schulbau den breiten Vorgarten durch die Eisengitter auf niedrigem Steinsockel abgeschlossen. Hier konnten sich müde alte Leute und kleine Kinder ausruhen, hierfür war die Sockelhöhe bemessen. Unsere Schulrektoren dachten anders, sie wünschten die Sockel derart umgestaltet, dass Niemand sich darauf zu setzen vermöge. Diesem Wunsche entsprach ich nicht, stellte aber vor die Torpfeiler von Taschner vortrefflich gestaltete, das Publikum anbellende Hunde und zum Sprung bereite Katzen.« (Ludwig Hoffmann. Lebenserinnerungen eines Architekten, herausgegeben von W. Schäche, Berlin 1983, S.185)
All dies erfuhr ich natürlich erst später. Dennoch machte das Gebäude mit den hohen Steinpfeilern und der ungewöhnlich verzierten Fassade – dralle, fast groteske Figuren, als wären es Karikaturen von Kindern – Eindruck auf mich. Doch hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht gedacht, dass Kindermotive in Helens Umgebung noch eine Rolle spielen könnten. Kaum in der Wohnung – ein durch den Vermieter fast klinisch sanierter Altbau, den Helen »totally white washed« nannte – besichtigten wir das Schlafzimmer, besser, eines der Schlafzimmer, denn Helen und Mary besaßen zwei, die sich quasi spiegelten: Sie waren durch offene Flügeltüren miteinander verbunden, und so standen sich zwei Doppelbett-Arrangements gegenüber. Drum herum verteilte sich eine zeittypisch spartanische Einrichtung, bestehend aus Bücherstapeln, Blumenvasen, kleinen Tischen für Notebooks, Stühlen, Stehlampen, einer Gitarre. Wie ich nun erfuhr, gab es hier zwei Begegnungen mit dem Geisterfräulein; es erschien in jedem Schlafzimmer einmal, immer auf ähnliche Weise: ein Hilferuf, Helen wurde wach und versuchte das Fräuleinanzusprechen, das dann wieder verschwand. Helen spielte, meiner Bitte nachkommend, die gesamte Szene einmal vor: Sie legte sich auf ihre Seite des Bettes und schloss die Augen. Sie schreckte hoch. »Help!«, rief sie, das Geisterfräulein imitierend. Wie schlaftrunken stellte sie sich ans Bettende, drehte sich zum
Weitere Kostenlose Bücher