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Die Gespenster von Berlin

Die Gespenster von Berlin

Titel: Die Gespenster von Berlin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Khan
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Fenstersims, wo das Fräulein plötzlich kauerte. »Sie schien mir keine Unbekannte«, sagt Helen, »obwohl mir das Gesicht fremd war, schien sie mir nah.«
    Ich warf einen Blick auf den Fenstersims und alle Gegenstände, die sich darauf befanden, und es ergab sich folgender, merkwürdiger Dialog: »Wünscht ihr euch ein Baby?«
    »Ja, verzweifelt!« (Sie sagte »desperately!«)
    Völlig unvorbereitet war ein heikles Thema berührt. Das Paar wünschte sich ein Kind, das war der erste Gedanke, der mir beim Anblick des Fenstersimses kam, denn dort standen ein Paar altmodische, schwarze Babyschuhe aus Leder, mindestens achtzig Jahre alt, vielleicht hundert. Die Schuhe hatten schmale Schnallen und in den Sohlen steckten winzige Nägel. Ob Helen sich auf dieses Thema einlassen würde? Sie hatte ihre Geschichte mit nichts Persönlichem ausgeschmückt, mir keinen Hinweis auf ein Paar alte Kinderschuhe am Fenster oder auf einen verzweifelten Babywunsch gegeben. War sie nicht in der Lage, ihre Situation anders als auf diese exzentrische Weise zu thematisieren, oder hatte sie sich in der Struktur des Spukereignisses verloren? Meine Menschenkenntnis sagte mir, dass Letzteres zutraf. Ihr war nicht im Entferntesten klar, dass diese Geschichte nicht nur vom Geisterfräulein, sondern auch von ihr handeln musste. Die Schuhe? Die seien aus West London, sagte sie, Mary hatte sie vor sechs oder sieben Jahren in einem Kaufhaus für Antiquitäten und Design namens »Alfies Antiques« gekauft. Die Verkäuferin hätte nur ungern die Schuhe verkauft.
    Aber mit dem Spuk könnten die Schuhe nichts zu tun haben, da war Helen sich sicher, sie hätten sie doch schon so lange. Sie schlug mir vor, einfach so zu tun, als stammten die Schuhe von einem Berliner Flohmarkt.
    Nein, so geht das nicht, sagte ich. Geistergeschichten brauchen Wahrheit, um zu funktionieren. Ich hätte wirklich gerne gefragt, was sie unternahmen, um schwanger zu werden, ob Bechermethode, Eggsharing wie in Großbritannien oder mit Hilfe einer Samenbank. Doch ich wagte es nicht, erfuhr aber, dass Mary das Kind austragen wollte. Helen betonte ihr Desinteresse an einer Schwangerschaft. Was zur nächsten Frage führte – das Geisterfräulein, so viel war klar, ermöglichte diesen Dialog zwischen zwei Fremden, die darauf überhaupt nicht vorbereitet waren.
    »Wie alt, sagtest du, war das Geisterfräulein ungefähr?«
    »Jung«, sagte Helen.
    »Wie jung?«, fragte ich.
    »So wie ich.«
    »Wie alt bist du?«
    »33«, sagte sie.
    Ich zog die Augenbrauen hoch (ich nehme an, dass ich es tat), um meine Skepsis auszudrücken. Wir leben in einer Stadt, in der niemand mehr altert. Aber wie lange kann man jung sein? Dreiunddreißig ist überhaupt nicht alt, aber jung ist auch nicht die beste Umschreibung dieser Lebensphase zwischen dreißig und vierzig, es ist das Alter der Entscheidungen. Ich stand zwischen den beiden Schlafzimmern und spürte plötzlich echtes Bedauern für die Lage der mir unbekannten Mary. »Wie alt ist Mary?«, fragte ich.
    »Vierzig.« Dieses Paar wünschte sich also ein Baby, aber nur die Ältere versuchte, schwanger zu werden. Was zum Teufel ging mich das an?
    Warum sollte ich Helen darauf hinweisen, dass die Chancen auf ein Baby größer wären, wenn auch sie bereit wäre, ein Kind auszutragen. Aber ich tat es.
    Ja, antwortete Helen, das wisse sie.
    Das Thema war damit beendet.
    Wer verfügt schon über Kenntnisse zur Rollendynamik eines lesbischen Paares mit Babywunsch, bei dem es zweimal gespukt hat?
    Der zweite Spuk, erzählte Helen nun, ereignete sich in der Nacht nach der Veranstaltung im englischen Buchladen (also nach der Lesung einer Spukgeschichte). Helen spielte mir die Situation nun im zweiten Schlafzimmer vor, legte sich ins Bett: Es ist Nacht, sie hört einen Hilferuf und erkennt am Bettende in der Dunkelheit eine junge Frau in einem cremeweißen Nachthemd, die barfuß ist und langes, dünnes Haar hat. Helen steht auf und stellt sich zu ihr. »Kann ich dir helfen?« Die Frau verschwindet. Helen weckt Mary, aber die bemerkte nichts von der Erscheinung, die Helen trotz Dunkelheit klar und deutlich gesehen haben wollte. »I tell you what I think«, sagte Helen zu mir. »Until this day I was a nonbeliever.«
    Plötzlich drängte sich Mary mir auf, in ihrer Rolle der einsamen, überforderten Partnerin bei der Durchsetzung des gemeinsamen Kinderwunsches. Vielleicht, dachte ich, ist das Geisterfräulein ihr Traumprodukt? Detektivisch gesprochen: Alle Spuren

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