Die Gespenster von Berlin
Geschichte. Der Hausenstörer aber bewertete das anders, als Illustration seiner Theorie, dass die Welt sechsundreißig Dimensionen besitzt. »Sechsunddreißig Schachbretter, auf denen wir spielen. Vielleicht ist Berlin in der achten Dimension eine Tempelanlage. Vielleicht nur ein Schlammloch mit Echsen.«
Herrje, war ich genervt. Es war nicht ohne Reiz, sich Berlin als Tempelanlage oder Schlammloch mit Echsen vorzustellen, aber das führte doch zu nichts. Wie sah der Dinosaurier aus? In welchem Stadtteil geschah das? Gab es einen Saurierfriedhof in Berlin, und wenn ja, wo? Meine Fragen waren dem Hausentstörer lästig, so kam er schnell zu einem anderen Thema, er sprach von einem Portal. Es befand sich an einer Ecke im traumwelthaften Prenzlauer Berg, die auf etwa zwanzig Meter Strecke eigenartig unberührt geblieben ist von den Veränderungen der letzten Jahre. »An der Schönhauser Allee / Ecke Stargarder Straße steht ein Wächter«, sagte er. »Der Wächter bewacht das Portal in eine andere Dimension. Die Bewohner müssen das Portal öffnen.« Erst am Abend zuvor hat er den Ort gereinigt. Manchmal reinigt er nach Feierabend noch ein wenig in der Nachbarschaft, zum Beispiel in den Schönhauser Allee Arcaden.
»Ist der Wächter noch da?«, fragte ich.
»Der Wächter ist noch da. Es gibt unheimlich viele Seelen, die weggeführt werden möchten. Ich denke, es sind Täterseelen.« Ich ging gleich nachschauen. Die Ecke war stressig, viel Verkehr, sonst nichts Auffälliges. Ein Wächter muss unangenehm und vom Wahnsinn getrieben sein. Stinken müsste er auch. Aber man roch nichts. An der Ecke befand sich eine Optiker-Filiale von Fielmann mit dem riesigen Plakat einer attraktiven Brillenträgerin und gegenüber ein Videoverleih, wo sich Kunden mit starrem Blick langsam-monoton vor den Regalen hin und her bewegten. Schauen und Glotzen. Ich nannte das Portal »Das Portal der tausend Augen«. »Lieber Herr Neumann«, schrieb ich später in einer E-Mail, »können Sie mir einen Klienten nennen, der mit mir über Ihre Dienstleistungen sprechen mag? Bitte nehmen Sie sich Zeit und denken Sie darüber in Ruhe nach.« Er versprach, in Ruhe darüber nachzudenken. Einige Wochen später schickte er mir die Telefonnummer einer Frau, die neben dem Portal der tausend Augen wohnte, sie hieß Solveig. Musste man sich Sorgen um sie machen? Zwischen ihrem Haus und dem Portal befand sich der Laden »Fuck Fashion«. »Wenn ich vom Paketboten eine Benachrichtigung über hinterlegte Post bekomme, dann steht darauf »Abzuholen bei Fuck Fashion«, sagte sie, als ich sie das erste Mal besuchte. »Ist das nicht unglaublich?« Solveig erinnerte mich an die nordamerikanische Wahrsagerin Alison Dubois, die das Vorbild für die US-amerikanische Fernsehserie »Medium« war. Die Filmfigur Alison arbeitet freiberuflich als Beraterin der Polizei, überführt durch Wahrträume Mörder und hat vor allem einen normalen, anstrengenden Alltag mit drei kleinen Kindern, einem Ehemann mit Jobproblemen und unbezahlten Rechnungen zu bewältigen. Eine Weile war ich fast süchtig nach dieser Serie. Warum erzählte ich Solveig davon? Weilsie auch ein Medium war bzw. eines werden wollte. Deshalb nahm sie Stunden bei Herrn Neumann – und erledigte seinen Bürokram. Solveig kannte die Fernseherie »Medium« nicht. Sie saß mit einer Gänsehaut in ihrer dunklen, schlecht geschnittenen Hinterhofwohnung am Küchentisch, eingezwängt zwischen dem benutzten Frühstücksgeschirr ihrer Kinder und drei übereinander gestapelten Kleintierkäfigen. Zwergkaninchen, Meerschweinchen, Mäuse. Sie war noch ganz am Anfang ihrer Karriere und wusste nicht, wie sie es angehen sollte. »Was soll ich tun? Ich kann doch kein Inserat in die Zeitung setzen: Ich rede mit den Toten. Kaufen Sie zehn und Sie bekommen zwölf.«
Sie kannte ihr Geschäftsmodell noch nicht. Bald würde sie eine Weiterbildung in Rückführung machen, sagte sie. Andere Ausbildungen hatte sie schon abgeschlossen: Heilen, Hypnose. Auch benutzte sie oft das Wort »reinigen«, das bleibt nicht aus in diesem Metier. »Was ist mit dem Portal? Ist es ein Höllenportal?«, fragte ich.
»Ich habe es gesehen«, sagte sie. »Hier sind überall Löcher. Eine offene Wunde. Ich habe mich bisher nicht näher ran gewagt, wenn ich die Wunde sah. Ohne gute Geister, die einem Schutz geben, geht das sowieso nicht. Man muss sich mit den Schutzgeistern erst gut stellen. Denn es gibt auch fiese Geister, wirklich üble
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