Die Gespenster von Berlin
wohnst du?«, fragt Römer. Die ultimative Frage unter den Zugezogenen, das regionale Quo vadis sozusagen. Ganz woanders, antwortet man da am besten, ganz woanders.
Eine neue Offenheit
Diese Welt hat zwei Seiten, eine lebendige und eine tote. Im Schlaf nähern sie sich an, träumen aufeinander zu. Sarg-graS, Gras-sarG. Help-pleH, Pleh-helP. »Help!«
Helen wacht auf, rappelt sich hoch und geht zwei Schritte zum Bettpfosten.
Es ist dunkel, aber da ist jemand, das kann sie erkennen. »Was ist los? Bist du okay?« Die Frau, die eben noch am Bettende kauerte, sitzt nun auf dem Fenstersims. Helen wendet sich ihr zu. »Was ist los mit dir? Brauchst du Hilfe?« Da ist sie schon weg, die junge Frau mit dem cremeweißen Nachthemd, den hellen, dünnen Haaren, barfuß war sie. Sie hatte deutlich um Hilfe gerufen, die Unbekannte. Helen weckt ihre Freundin. Hast du das auch gehört? Nein, Mary hatte nichts bemerkt. Bald schon schliefen sie wieder.
Helen ist Australierin, sie arbeitete einige Jahre in London als freiberufliche Publikationsberaterin für Autoren und Verlage (Schwerpunkt Webpublishing) und zog vor kurzer Zeit mit ihrer Lebensgefährtin nach Berlin. Mary bekam eine Management-Anstellung bei einem internationalen Konzern, der eine Berliner Geschäftsstelle eröffnet hatte. Die beiden Frauen wohnen nun in der Xstraße im Prenzlauer Berg. Wenige Tage nach dem nächtlichen Erlebnis mit dem Geisterfräulein besuchte Helen eine Veranstaltung des englischen Buchladens dialogue-books in Berlin-Neukölln, bei der das internationale Literaturmagazin Asymptote seine neueste Ausgabe präsentierte. An diesem Abend wurde auch die englische Übersetzung einerGespenstergeschichte von Sarah Khan vorgestellt. Die Übersetzerin Mrs. Jane Yager las einen Auszug und stand im Anschluss – zusammen mit der Autorin, die seit fünf Jahren keine Geister mehr gejagt hatte – einem interessierten internationalen Publikum Frage und Antwort. Bei den Drinks, die abschließend genommen wurden, stellte sich Helen mir vor: »Ich finde es absolut unglaublich, von deinem Buch zu erfahren!« (Sie sprach Englisch). »Ich lebe erst seit kurzem in Berlin, aber ich habe vor wenigen Tagen etwas sehr Merkwürdiges in meinem Haus erlebt. Davon könnte ich dir erzählen, wenn du magst.«
Da geschah etwas Überraschendes: Ich bügelte dieses Angebot nicht ab. In den letzten Jahren hatte ich stets höflich darauf verwiesen, dass keine weiteren Gespenstergeschichten geplant seien, wenn jemand nach einer Lesung behauptete, mit einer wahnsinnig interessanten, irren Geschichte aufwarten zu können. Nun aber lag die Situation anders: Eine zweite Auflage meiner »Gespenster von Berlin« war geplant und ich musste zurück zum Dienst, egal, wie gedämpft der Sportsgeist und wie eingerostet die Geisterjagd-Werkzeuge. Helen, diese freundliche und vor allem auch völlig »normal« wirkende Neuberlinerin mit dem taufrischen Spukerlebnis kam da wie gerufen.
Einige Wochen später. Helen hatte ein Café vorgeschlagen, das sich als Frühstückraum eines Appartement-Hotels im Prenzlauer Berg herausstellte. Zugegeben, es war gemütlich und die männliche Bedienung hinter der Theke, von appetitlichem Kleingebäck umrahmt, war so ausgeschlafen und von Glück durchflutet, dass sie selbst wie ein Feriengast erschien. Seltsam, dass ich mich mit einer Frau, an deren Aussehen ich mich kaum noch erinnern konnte,im Frühstücksraum einer Hipster-Herberge traf. Es war wohl das erste Zeichen von Helens Unbeheimatetsein. Zunächst plauderten wir über die englische Verlagsbranche, Helen erzählte, dass sie beruflich regelmäßig nach London fuhr, weil die meisten ihrer Auftraggeber dort lebten. Später sah ich auf ihrer Webseite, dass sie Autoren instruktive Vorträge zu Webpublishing, sozialen Medien und Internetpräsenz anbot, die 1,5 Stunden dauerten und 90 Pfund kosteten (104,64 Euro).
Ich schlug mein Notizbuch auf als Zeichen, dass ich nun bereit sei, mir alles anzuhören. Und fürwahr, ein gewisses Entsetzen stellte sich umgehend ein, denn Helens Geschichte war sekundenschnell und mit wenigen Sätzen erzählt. Fast ein wenig beleidigt fragte ich mich, was aus Helens Perspektive für Außenstehende daran interessant sein sollte. Zugegeben, das cremeweiße Nachthemd war ein hübsches Detail, aber sonst? Ich wollte mir die Enttäuschung nicht anmerken lassen. Eine Quiche mit Salat und weiteres Geplauder über die Verlagsbranche, insbesondere über das Desinteresse der Briten an
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