Die Gespenstergruft
Gespenster-Gruft genannt wurde. Von einem Gespenst jedoch hatte Harry bisher glücklicherweise nichts gesehen. Darauf konnte er auch verzichten, das übrige reichte ihm schon.
Ein wenig kam er zu Kräften. Dann überwältigte ihn eine sehr große Müdigkeit, und es tat ihm gut, auf dem Boden zu liegen und einzuschlafen.
Walter Cohn machte sich etwas vor. Er dachte daran, in seinem Bett zu liegen. Es war alles in Ordnung, die Dinge liefen, es war wunderbar, es gab keine Gruft, keine Gespenster, keine Mauern, keinen Hunger und auch keinen Durst.
Es gab nur den tiefen, wunderbaren Schlaf. Aber auch der währte nicht ewig. Irgendwann stieg Walter wieder aus der bedrückenden Tiefe an die Oberfläche hervor und hatte dabei das Gefühl, durch Öl zu gleiten, das einen Schacht ausfüllte und ihm den entsprechenden Widerstand entgegensetzte. Der Widerstand war weich und schleimig, so daß es dauerte, bis er sich allmählich der oberen Grenze nähern konnte und aus den Schatten des Schlafs hinein in die brutale Wirklichkeit stieß.
Er öffnete die Augen.
Er wollte sich bewegen, aber etwas anderes hinderte ihn daran. Nie zuvor in seinem Leben oder nach einem Aufwachen hatte er einen derartig widerlichen und gleichzeitig trockenen Geschmack im Mund verspürt. Es war kaum zu erfassen, es war eine Mischung aus Gallen-und Magensäften, die allesamt in seine Kehle gestiegen und dort eingetrocknet waren, als hätten sie eine Kristallspur hinterlassen.
Walter bewegte seine Zunge. Schwerfällig, als wäre sie zuvor eingerostet gewesen.
Dann drückte er seinen rechten Arm zur Seite. Auch diese Bewegung kostete ihn Kraft, und er folgte dabei einem Automatismus, denn jeden Morgen nach dem Aufwachen suchte er den Knopf der Nachttischleuchte.
Heute griff er ins Leere!
Er wunderte sich, er wartete ab, er faßte noch einmal nach. Aber da war nichts.
Warum?
Er öffnete die Augen. Dabei fiel ihm ein, daß sie schon offen waren.
Erkennen konnte Walter Cohn nichts. Es war so dunkel, so schrecklich finster und lichtlos.
Nicht wie in seinem Schlafzimmer. Da konnte er wenigstens noch Umrisse erkennen.
Hier aber war nichts.
Warum nicht?
Seine Gedanken bewegten sich wie träge Bleistücke. Er bekam sie noch nicht richtig geordnet, zuviel auf einmal strömte ihm durch den Kopf. Das war nicht gut, er kam nicht zurecht, er mußte sich erst sammeln und mit der neuen Lage zurechtkommen.
Wo bin ich?
Die Frage glich einem Schwert mit scharfer Klinge, das durch seinen Kopf raste. Plötzlich setzte er sich mit einem heftigen Ruck auf, spürte den Schwindel, der ihn überkam und ihn beinahe umriß. Alles drehte sich, obwohl er nichts erkennen konnte. Er atmete ein.
Welch eine Luft!
Fürchterlich!
Alt und feucht, verbraucht, nach allem möglichen schmeckend, nach Verfaultem und auch nach Moder. Eine Luft, die sich wie Leim in seinem Mund festsetzte und auch dort klebenblieb.
Er keuchte.
Speichel lag nicht mehr in seinem Mund. Walter kam sich wie ausgetrocknet vor. Er strich über seine Handrücken hinweg. Auch hier war die Haut längst nicht mehr so geschmeidig wie sonst. Sie erinnerte ihn an dünnes Papier.
Er stöhnte auf.
Es war überhaupt der erste Laut, den er nach dem Erwachen über die Lippen rinnen ließ. Darüber erschreckte er sich selbst, bekam sogar eine Gänsehaut, obwohl es in seinem verfluchten Gefängnis alles andere als kühl war.
Keine Lampe, kein Licht. Kein Wissen darüber, ob es Tag oder Nacht war. Diese Dinge zählte Walter Cohn zusammen und erreichte sogar ein Ergebnis, das den Namen Erinnerung verdiente.
Sie hatten ihn gefangen!
Diese Erkenntnis stand wie eine grell gedruckte Headline an der obersten Stelle.
Gleichzeitig lösten sich aus dem großen Bereich der Erinnerungen zahlreiche Einzelteile, als hätte jemand ein Puzzle zerstört. Ihm fiel wieder ein, was mit ihm geschehen war, und als er darüber nachdachte, da war ihm klargeworden, daß die Chancen, aus eigener Kraft hier wegzukommen, minimal geworden waren.
Nicht nur das.
Es gab sie gar nicht.
Er war gefangen, er blieb gefangen, er würde gefangen bleiben. Er war auf Hilfe von außen angewiesen, andernfalls würde er verrecken. Aus und vorbei!
Er drehte sich auf die Seite. Plötzlich kamen spärlich die Tränen. Hinter seiner Stirn lauerte der Druck. Regelrechte Schmerzwellen zuckten durch seinen Schädel. Hinzu kamen die tränenlosen Weinkrämpfe, die einfach nicht aufhören wollten, und er kroch wie ein Tier auf allen vieren weiter, weil ihm
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