Die gestohlene Zeit
ich mir schäbig vor, denn Karla bückte sich und streichelte mich: »Nun komm mit in mein Zimmer, und trink deine Milch!«
Doch ich gab nicht auf und machte Männchen, indem ich mich nun mit beiden Vorderpfoten am Türrahmen hochstemmte. »Ich will raus – und zwar jetzt«, sollte das heißen. Endlich verstand Karla. »Nein, Katze, bitte bleib doch noch ein bisschen!«, flehte sie kläglich.
In dem Moment ertönte Claudias verschlafene Stimme aus dem Schlafzimmer.
»Kinder? Seid ihr wach?«
Karla erstarrte buchstäblich vor Schreck. Ich flüchtete blitzschnell ins Wohnzimmer und kauerte mich dort unter einem riesigen Ledersessel zusammen. Keinen Augenblick zu früh, denn schon war das Klatschen von Claudias nackten Fußsohlen auf dem Flur zu hören.
»Wo Emma nur bleibt?«, sagte Jonathan und lief unruhig neben der Hecke, die das Grundstück von Udos Villa begrenzte, auf und ab. Er und Lilly hatten sich am hinteren Ende des Gartens positioniert, an dem ein paar Büsche und die Hecke ihnen Sichtschutz gewährten. Die Katze hätte eigentlich bereits vor dem Haus auf sie warten sollen.
»Vielleicht hat sie einen Kater«, erwiderte Lilly, um auf Jonathans ungehaltenen Blick hin gleich zu murmeln: »'tschuldigung, war ein Witz. Vielleicht ist sie schon mal ins Haus geschlichen und sondiert die Lage. Wir sind ja auch eben erst angekommen«, versuchte sie Jonathan zu beruhigen.
»Ich hoffe es«, murmelte er. Seit geraumer Zeit hatte er das dumpfe Gefühl, Emma wäre in Gefahr. Doch die Villa lag still und friedlich im Sonnenlicht des Vormittags. Nur in den Büschen und Bäumen, die den geräumigen Garten säumten, zwitscherten fröhlich ein paar Vögel.
Zu
fröhlich für die Nähe einer Katze? Oder bedeutete das, Emma war gar nicht hier? Nervös spielten Jonathans Finger mit dem schwarzen, glatten Kiesel in seiner Hosentasche. Die Versuchung war groß, ihn einfach zu benutzen, um in das Haus hineinzukommen. Aber damit brächte er unter Umständen nicht nur Emma, sondern auch sich selbst in Gefahr, und so beschloss Jonathan, einfach abzuwarten. Viel mehr konnte er nicht tun.
Karla hatte sich offenbar rasch von ihrem Schreck erholt, denn ihre Stimme war gedämpft in mein Versteck gedrungen.
»Ich bin’s, Mama. Ich habe mir nur was zu trinken geholt!«, flötete sie.
»Du magst doch normalerweise keine Milch«, wunderte sich Claudia.
»Heute schon«, krähte Karla fröhlich, und ich war erstaunt, wie abgebrüht sie für ihr Alter schwindelte.
Da hörte ich schwere Schritte in den Flur poltern. »Mann! Hat man nicht mal am Sonntag seine Ruhe? Ich wollte eigentlich ausschlafen«, maulte Udo. »Was macht ihr denn in aller Herrgottsfrühe hier so einen Lärm?«
»Erstens ist es neun Uhr morgens. Zweitens machen wir keinen Lärm, sondern wir unterhalten uns. Und drittens wollten wir sowieso einen Ausflug …«
»Seit wann trinkst du denn Milch zum Frühstück? Du hast doch immer behauptet, davon wird dir schlecht!«, unterbrach Udo die Tirade seiner Frau. Offenbar war er auf den Inhalt von Karlas Tasse aufmerksam geworden.
»N… ne, ich hatte eben Durst«, versuchte die Kleine, sich herauszureden. Aber ihrer Stimme war deutlich anzuhören, wie sehr sie von ihrem Vater eingeschüchtert war.
»Ach so«, ließ sich Udos Stimme vernehmen. Doch es war ein Unterton dabei, wie eine falsche Note in einem Lied, bei dem ich hätte stutzig werden sollen. Und auch die Tatsache, dass die Stimmen plötzlich leise wurden und schließlich verstummten. Kurz darauf schlug eine Tür. Doch ich dachte mir nichts dabei und vermutete, Claudia wäre mit Karla in die Küche gegangen, um Frühstück zu machen, und Udo ins Bad verschwunden.
Wenige Augenblicke später flog jedoch plötzlich die Tür zum Wohnzimmer auf, und aus meinem Schlupfwinkel heraus sah ich Claudias Füße, die jetzt in breiten Gummischuhen steckten, schnurstracks auf den Sessel zukommen, unter dem ich kauerte. Mit einem energischen Ruck begann sie, das Möbelstück zur Seite zu schieben.
Verflixt, war Karla also doch eingeknickt und hatte gepetzt, schoss mir durch den Kopf, und ich beschloss, die Flucht nach vorne anzutreten. Ein Fehler, denn als ich aus meinem Unterschlupf raste, wurde es schlagartig dunkel um mich herum. Etwas Weiches schlang sich eng um mich und drohte mich zu ersticken. Es war eine Decke, die jemand – wahrscheinlich Udo – über mich geworfen hatte. Schon packten seine Hände zu und pressten mich mitsamt dem Plaid auf den Boden.
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