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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Energie, die ihn durchströmte. Der Käfer zog einen Bogen über ein Gebiet, in dem die Straßenlinien dünner und die Häuser seltener wurden. Hätte Laurin etwas mehr Aufmerksamkeit auf die Route des Skarabäus gelegt, wäre ihm vielleicht der rote Punkt mit dem Schriftzug »Städtisches Tierheim« ins Auge gefallen, den er überquerte. So aber verfolgte sein Blick, wie das Insekt nur kurz innehielt, ehe es wieder den Weg in die belebtere Region der Stadt einschlug. Langsam und schwerfällig kroch es über rote, gelbe und schwarze Linien, ungeduldig beobachtet von seinem Herrscher. Schließlich verharrte der Käfer in der Mitte einer schmalen Straße. »Ahornallee« stand dort, doch Laurin brauchte den Straßennamen nicht zu lesen. Er schloss die Augen und ließ sich von seinem sechsbeinigen Gehilfen den Weg zu dieser Straße im Geiste zeigen. Auf diese Weise entstand eine innere Landkarte, die Laurin direkt zu Similde bringen würde. Er hatte ihr Versteck gefunden.
    Er wandte sich ab und stöberte Thoralf hinter ein paar roten Kästen auf. Der Gnom lag schnarchend auf dem Rücken und roch wie eine ganze Wiese Bergblumen, über die ein Fass Branntwein gekippt worden war. Etwas grüne Flüssigkeit war aus seinem Mundwinkel gelaufen, und Laurin schüttelte missbilligend den Kopf, ehe er seinen Untertan mit einem unsanften Tritt in die Rippen weckte.
    »Heda, aufstehen!«
    Mit einem unwilligen Stöhnen rollte Thoralf herum, aber als er seinen König erblickte, sprang er hastig auf die Beine.
    »Majestät …«, stammelte er, wurde jedoch von dem Laut eines Schlüssels unterbrochen, der sich im Schloss drehte.
    »Rasch«, zischte der König und schubste Thoralf hinter die Kästen zurück. Dann griff er hastig nach dem Plan und seinem Skarabäus, bevor er sich zu seinem Untertan gesellte. Der König hatte in der Eile keinen Blick mehr für den Käfer gehabt, sonst hätte er gesehen, wie der Späher erneut seine Wanderung begonnen hatte, fort von der Ahornallee.
    Den Zwergen war es gerade noch gelungen, sich zu ducken, da schwang die hintere Tür zum Kellerraum auf, und unmittelbar darauf flammte mit einem unruhigen Zucken und Summen das grelle Licht auf. Gleichzeitig wehte von der offenen Tür her ein Schwall frischer Luft in das Versteck der Zwerge.
    »Stell die Bierkästen an den üblichen Platz. Ich mache oben schon mal die Rechnung fertig«, sagte eine tiefe Männerstimme, die Laurin wiedererkannte. Sie gehörte dem Mann, der unwissentlich seinen magischen Kiesel eingesteckt hatte.
    Eine zweite männliche Stimme brummte: »Hast du irgendwo alte Zwiebeln gelagert, oder wieso müffelt es hier drin so?«, dann entfernten sich die Schritte, und eine Weile war nur das Klappern und Klirren der Kästen zu hören, die jemand aufeinanderstapelte.
    Vorsichtig lugte der Herrscher der Zwerge aus seinem Versteck hervor und sah einen bulligen Menschling mit einer komischen Kappe, die irgendwie zu klein für seinen massigen Schädel wirkte und vorne eine Art Schild besaß. Soeben drehte er sich um und stapfte zu der Tür im hinteren Teil des Raumes, die er sperrangelweit aufriss, ehe er nach draußen verschwand. Die Tür ließ er offen.
    Laurin packte Thoralf grob am Arm und zerrte ihn hinter sich her zur Treppe, die ins Freie führte. Mit einem Blick vergewisserte sich das Oberhaupt der Zwerge, dass niemand sie sehen konnte. Der massige Mann stand mit dem Rücken zu ihnen und machte sich an einer riesigen Kutsche auf vier Rädern zu schaffen, die noch mehr dieser seltsamen Kästen geladen hatte. Die beiden gedrungenen Gestalten, die sich hastig hinter ihm vorbeischoben und eilends um die nächste Hausecke verschwanden, nahm der Getränkefahrer gar nicht wahr. Er stemmte zwei Kästen Helles von seinem Lkw und hoffte, Stevie würde sich nicht wieder mit der Rechnung verhauen und ihm wie beim letzten Mal zu wenig bezahlen.
     
    Thoralf folgte seinem Herrn, der wortlos und in großer Eile auf seinen kurzen, krummen Beinen durch die Straßen hastete. Laurin nahm weder die Blicke wahr, die ihnen folgten, noch die geflüsterten Bemerkungen und ausgestreckten Finger, die auf die Zwerge deuteten. Wie blind und von einer unsichtbaren Macht getrieben, lief der König kreuz und quer durch die Stadt. Er folgte keinem Straßenverlauf, sondern nur seinem inneren Plan. Thoralf brauchte nicht zu fragen, was Laurins Ziel war, denn er hatte den Skarabäus im Keller gesehen und sofort gewusst, was dies zu bedeuten hatte.
    Weiber, dachte der Wicht

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