Die gestohlene Zeit
nach dem Etui. Seine Finger ertasteten etwas Schmales, Samtenes, und er atmete auf. Behutsam zog er die Schachtel heraus, die ihm auf einmal wie ein Rettungsring erschien, an den er sich klammerte, um nicht zu ertrinken. Selbst das Atmen fiel ihm schwer. Gleich würde es besser werden, dachte er und klappte langsam und feierlich den Deckel des Schächtelchens auf.
Er erwartete den sanften Schimmer von Gold und das grüne Feuer des Steins zu sehen, aber sein Blick fiel auf schwarze Leere. Auf dem dunklen Samt lag – nichts. Es dauerte geschlagene fünf Sekunden, ehe Udo begriff: Der Ring befand sich nicht mehr in der Schachtel.
Ein namenloses Entsetzen packte ihn. Die Luft entwich aus seinem Brustkorb, und er brachte nur ein klägliches Fiepen heraus. Seine Hände schossen vor, und er tastete blind den schmalen Innenraum des Tresors ab, auf der Suche nach seinem Kleinod, obwohl sein Verstand wusste, dass er nichts finden würde. Doch Udo wollte die Stimme in seinem Kopf nicht hören. Sie konnte, nein, sie
durfte
nicht recht haben! Denn das würde bedeuten, seine ganze Macht, all das viele Geld, die Frauen und die Vergnügungen, die ihm in den vergangenen siebenundzwanzig Jahren so leicht und problemlos zugeflogen waren, wären ab sofort verloren.
Denn so verroht und abgestumpft er auch sein mochte, tief in seinem Herzen hatte er immer gewusst, dass es einzig und allein der Ring war, der ihn zu dem machte, der er war: ein wohlhabender, erfolgreicher Anwalt, der noch nie einen Prozess verloren hatte. Und mit einem Mal wurde ihm auch klar, wann der Schmuck gestohlen worden war. Es musste exakt zu diesem Zeitpunkt gewesen sein, da der Richter seinen Einspruch abgelehnt hatte. In dieser Sekunde hatte er die Macht des Rings verloren.
Jetzt wurde Udo tatsächlich schwarz vor Augen. Schwer atmend stützte er sich an der Wand ab, um nicht umzukippen. Ein Würgereiz schüttelte ihn, und stöhnend sog er die Luft ein, wobei er das Gefühl hatte, ein Zentnergewicht läge auf seiner Brust. Gebückt stand er da und fühlte sich mit einem Mal alt und dick. Während er keuchend nach Luft schnappte, hörte er ein Klopfen an der Tür.
»Udo? Alles in Ordnung mit dir?«, drang Franks Stimme durch die Tür. Frank! Was machte der eigentlich in der Kanzlei? Und hatte er nicht gerade beim Reinkommen geradezu ekelhaft zufrieden ausgesehen?
Mit einem Ruck fuhr Udo aus seiner gebückten Haltung hoch. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Magen, aber er achtete nicht darauf. In fliegender Hast drehte er den Schlüssel um und riss die Tür auf.
»Wo ist er?«, bellte er Frank an, der bei Udos abruptem Erscheinen vor Schreck zwei Schritte zurückgewichen war.
»Wo ist wer?«, stotterte der überrumpelt, doch Udo packte ihn am Kragen seiner abgewetzten Windjacke und stieß ihn in sein Büro, ohne auf Lenas erschrockenen Ausruf zu hören. Er schloss die Tür und baute sich drohend vor Frank auf.
»Ich rate dir, ihn ganz schnell wieder rauszurücken, Freundchen, oder ich breche dir jede Rippe einzeln«, zischte er seinen alten Kumpel und Mitschüler an.
»Aber … wen meinst du denn?«, winselte Frank. Den Kopf eingezogen und den Rücken unterwürfig gekrümmt, erinnerte er Udo an einen Hund, der so oft verprügelt worden war, bis er bei der kleinsten Bewegung bereits Schläge erwartete. Ihm wurde klar, dass sich Frank niemals so verhalten würde, wenn er tatsächlich im Besitz des Ringes wäre. Hätte er den Schmuck aus dem Tresor genommen, wäre dessen Macht auf Frank übergegangen, und er würde vor Selbstsicherheit nur so strotzen und über seine Drohung höchstens lachen.
»Ach Mist, vergiss es«, murmelte Udo daher nur und klopfte seinem Kumpan ungeschickt auf die Schulter. »Tut mir leid«, fügte er noch hinzu. Weniger, weil es die Wahrheit war, sondern weil er Frank unter Umständen noch brauchen konnte, wenn er den Ringdieb jagen würde. Denn wenn es nicht Frank war, kam eigentlich nur eine Person in Frage.
»War irgendjemand heute in meinem Büro?«, blaffte er Lena an, kaum dass er mit dem völlig verwirrten Frank im Schlepptau ins Vorzimmer trat.
»Du … äh … Sie haben doch diese Praktikantin herbestellt«, nölte Lena, ohne von ihrer Tastatur aufzublicken.
»Wen?«, fragte er, und offenbar klirrte seine Stimme förmlich, denn nun hob Lena doch den Blick und sah unter ihren dreifach getuschten Wimpern hervor.
»Na, die Jurastudentin aus Passau«, erklärte sie. Um auf Udos ratlose Miene hin hilfreich
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