Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
Vom Netzwerk:
er.
    »Doch, aber … ach egal. Wenigstens habe ich beim Surfen viel gelernt«, erwiderte ich.
    »Non scholae, sed vitae discimus«, dozierte Leon, und schlagartig machte es bei mir »Klick«.
    »Leon«, sagte ich, sah ihm tief in die Augen und knipste mein schönstes Lächeln an, »du darfst mich jetzt doch zu einer ›Latte macchiato‹ einladen, wenn ich noch ein einziges Mal an diese Suchmaschine darf …«

[home]
    Kapitel 10
    M it Rabe Jonathan auf der Schulter und dem Kleiderbündel unterm Arm stand ich vor einem efeubewachsenen Haus am Ende eines schmalen Sträßchens. Zwar hatte die Fassade auch schon bessere Zeiten erlebt, aber mit seinem tiefgezogenen Ziegeldach und den Sprossenfenstern wirkte es einladend und gemütlich. Trotzdem schwebte mein Zeigefinger einen Zentimeter vor der Klingel, und ich zögerte, sie zu betätigen. Ich hatte Bedenken, welche Reaktion mein Erscheinen wohl auslösen würde. Im Geiste sah ich bereits einen Sanitäter, der mit ernster Miene »Herzinfarkt durch Schock« diagnostizierte.
    Unschlüssig drehte ich den Kopf und blickte Jonathan an. »Ich traue mich nicht«, erklärte ich dem Vogel. »Was, wenn ich am Ende die Schuld an einem Todesfall trage?«
    Der Rabe legte den Kopf schief. »Was ist die Alternative?«, schien er zu fragen. Er hatte ja recht. Ich musste es einfach riskieren. Entschlossen drückte ich auf den Klingelknopf, auf dem »T. Spindler« stand. Ein melodischer Dreiklang ertönte im Inneren des Hauses, und kurz darauf näherten sich langsame Schritte. Mein Herz schlug so heftig, dass ich es bis hinauf in meine Kehle spürte, und mit trockenem Mund wartete ich darauf, dass mein ehemaliger Tutor mir öffnen würde. Knarrend schwang die Haustür auf. Der Mann, der im Gegenlicht stand und durch seine dicken Brillengläser blinzelte, musste inzwischen Ende siebzig sein. Sein Gesicht war schmal geworden und von unzähligen Falten durchzogen. Trotzdem erkannte ich die vertrauten Gesichtszüge sofort wieder.
    »Guten Tag, Herr Spindler« war alles, was ich herausbrachte.
    Sekundenlang musterte er mich befremdet, ehe sich in seiner Miene erst Erkennen, dann Überraschung und schließlich Unglauben breit machte.
    »Emilia? Emilia Wiltenberg?«, fragte er, und ich erkannte, dass er nicht glauben konnte, was er sah.
    Daher beeilte ich mich zu nicken. »Ich weiß, es kommt Ihnen unmöglich vor, aber … darf ich es Ihnen erklären?«, fragte ich.
    Er starrte mich noch sekundenlang an, als sei ich ein Geist, der ihn heimsuchen wollte, doch gleich darauf hatte er seine Fassung zurückgewonnen. »Aber natürlich, kommen Sie herein«, sagte er hastig und bedeutete mir, ihm zu folgen.
     
    »… und dann bin ich in diesem Computercafé auf die Idee gekommen, Ihre Adresse zu … ähm,
googeln.
Zum Glück leben Sie immer noch hier in der Stadt«, beendete ich meinen Bericht und nippte an dem Tee, den der alte Herr vor mich hingestellt hatte. Eine geschlagene Stunde lang hatte ich nur geredet und Spindler haarklein alles berichtet. Angefangen von dem Fund des Goldrings, den Udo mir gewaltsam weggenommen hatte, bis zu meinen Erlebnissen im unterirdischen Gefängnis bei König Laurin. Spindler hatte erfahren, dass siebenundzwanzig Jahre in der menschlichen Welt etwa drei Tagen Zwergenzeitrechnung entsprachen. Nur den Fluch hatte ich bisher ausgelassen, weil ich meinen alten Tutor nicht mit einem verzauberten, zweihundert Jahre alten Jungen überfordern wollte. Der hockte in Rabengestalt auf der Armlehne meines Sessels, in dem ich mich niedergelassen hatte, und pickte genüsslich an den von Spindler bereitgestellten Keksen herum, die auf einem kleinen Tellerchen für ihn angerichtet waren.
    Eine lange Weile schwieg mein damaliger Praktikumsbetreuer. Nur das Ticken der altmodischen Wanduhr war zu hören, die ungerührt die Sekunden zählte, die sich zu Stunden, Tagen und Jahren summiert hatten, ohne dass ich etwas davon gemerkt hatte.
    »Was Sie mir erzählt haben, klingt unglaublich, Emilia«, ließ er sich endlich vernehmen. »Sicher, einige Märchen handeln von Menschen, die in die unterirdischen Stollen der Zwerge gehen. Meist aus Gier wegen der vielen Schätze, die diese Wesen gehortet haben. Meist gehen die Geschichten auch so aus, dass derjenige, der bei den Zwergen war, um hundert Jahre gealtert wieder in die normale Welt zurückkommt und am Ende stirbt.«
    »Das ist mir ja nun zum Glück erspart geblieben, außer die Zwergenmagie arbeitet zeitverzögert«, gab ich

Weitere Kostenlose Bücher