Die Gestrandeten - Im Sog der Zeiten, Bd. 4
wirklich Selbstvertrauen, das muss man ihm lassen, dachte Jonas. Aber wie will er mit einem Ruderboot etwas entdecken? Noch dazu im Eismeer? Und wie, stellt er sich vor, soll hier irgendjemand überleben?
Wieder wurde es Jonas unter Umhang, Maske und Perücke zu eng. Es fiel ihm immer schwerer, genug kalte Luft in seine Lunge zu saugen.
Die Nordwestpassage, der verrückte Henry Hudson, alle diese Leute, die entweder erfrieren oder verhungern werden – und ich kann nichts dagegen tun, dachte Jonas.
Im Grunde ist alles schon passiert. Es ist getan. HK muss mich und Katherine bloß noch hier rausholen.
Jonas wandte sich ab und tat, als wollte er sich vor dem Wind schützen. Er kauerte sich zusammen und brachte das Gesicht nah an die Tasche, in der er den Definator verstaut hatte.
»HK!«, flüsterte er. »Du könntest uns jetzt wirklich holen kommen! Ich kann auch so tun, als würde ich ins Wasser fallen oder so etwas.«
Aber würde dann jemand versuchen, ihm nachzuspringen und ihn zu retten? Würde Staffe es tun? Oder Henry Hudson selbst?
»Vielleicht sollten wir wirklich zur Winterhütte fahren«, sagte er so laut, dass ihn alle hören konnten.Wenn sie an Land gingen, konnte er sich davonschleichen, ohne jemanden zu gefährden.
Eine Faust fuhr ihm gegen das Kinn und eine Hand drückte ihn rückwärts an die Bootswand. Wäre Katherine nicht an seiner Seite gewesen und hätte ihn festgehalten, dann wäre er umgefallen.
»Du wagst es, meine Autorität infrage zu stellen?«, fauchte Henry Hudson ihn an und baute sich drohend vor ihm auf. »Ich habe gesagt, dass wir uns
nicht
in die Winterhütte zurückziehen. Wir gehen den Weg der Ehre! Hast du vergessen, wer hier der Kapitän ist?«
Jonas sah Hudson in die Augen. Angesichts der Möglichkeiten, die er nun hatte, beschlich ihn plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Er könnte sagen:
Hast du vergessen, dass man dich als Kapitän gerade gefeuert und von deinem eigenen Schiff geworfen hat?
Oder:
Vielleicht ist es Zeit, dass jemand anderes als Kapitän weitermacht, denn du machst die Sache nicht besonders gut.
Oder er lenkte ein.
Welche Wahl würde ihn davor bewahren, noch einen Faustschlag zu kassieren?
Welche Wahl hätte John Hudson getroffen?
Welches war die richtige Entscheidung?
Normalerweise entschied sich Jonas schnell und aus dem Bauch heraus. Er musste meist nicht eine Sekunde nachdenken. Doch nun schienen die Minuten nur so zu verrinnen, während sich sein Hirn wie gelähmt anfühlte.
Ist das immer so, wenn Leute sich nicht gleich entscheiden können?, fragte er sich. Wird ein Entschluss immer schwieriger, je länger man damit wartet?
Er spürte, dass ihn alle im Boot beobachteten und darauf warteten, was er tun würde. Selbst Katherine, die vor Verwirrung eine Grimasse zog.
Wie? Katherine will mir nicht vorschreiben, was ich tun soll?, dachte Jonas.
Vielleicht zum ersten Mal im Leben wünschte er sich, sie würde es tun.
Irgendwo in der Ferne, am Rand seines Sichtfeldes war etwas. Zuerst hielt er es für ein Überbleibsel der Zeitkrankheit. Für eine Illusion. Doch dann schien ein großer Schatten durch den Nebel auf sie zuzuschweben. War das wieder ein Eisbrocken? Wie konnte ein Eisbrocken so hoch aus dem Wasser ragen?
Jonas kniff die Augen zusammen und sah von links nach rechts. Er vergaß, dass er eine Entscheidung hatte treffen wollen.
Es kann unmöglich das sein, was ich denke, dachte er. Die Richtung ist völlig falsch, oder etwa nicht?
Der Schatten durchbrach den Nebel, der Umriss nahm endlich Gestalt an: drei Masten, geblähte Segel, ein verwitterter Rumpf. Jonas stockte der Atem, er traute seinen Augen nicht.
Die anderen drehten sich um und staunten ebenso wie er.
»Das Schiff! Es kommt zu uns zurück!«, schrie Hudson.
Elf
»Hussa! Hussa! Hussa!«
Selbst die halb toten Seeleute fanden die Kraft zu jubeln. Sie reckten die zittrigen Fäuste und boxten kraftlos in die Luft. Ein zahnloses Grinsen überzog die verschrumpelten Gesichter.
»Das war alles geplant«, erklärte Hudson. »Ich wusste, dass es so kommt. Ohne mich sind die Meuterer verloren.«
»Wie haben sie es dann geschafft, zu wenden und wieder zu uns zurückzukommen?«, murmelte Jonas.
Er sah Katherine an und versuchte sie mit Blicken zu fragen:
Ergibt das irgendeinen Sinn für dich? Hier stimmt doch etwas nicht!
Sie schüttelte nur stumm den Kopf, die Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Neben Jonas saß ein Seemann, der sich über eine kleine Kiste
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