Die Gestrandeten - Im Sog der Zeiten, Bd. 4
begriff, dass Hudson die Meuterer aufzählte, jene Männer, die nun fehlten.
»Auf dem Eis?«, fragte Staffe. »Spürt Ihr denn nicht die milde Luft? Es ist ein warmer Tag heute. Das Eis kann bis Mittag komplett geschmolzen sein.«
»Dann wird das Wasser für die Meuterer warm genug sein, um ans Ufer zu schwimmen«, sagte Prickett leichthin. »Das sind bessere Aussichten, als in London wegen Meuterei am Strick zu enden, meint Ihr nicht?«
»Meuterer enden immer am Galgen«, sagte Hudson. Wieder sah er sich um und diesmal schien er jedem Einzelnen in die Augen blicken zu wollen. »Selbst wenn das Wort des Kapitäns gegen das der gesamten Besatzung steht.«
Jonas musste einen Schauder unterdrücken, als Hudson in seine Richtung sah.
Er warnt jeden von uns, auch nur daran zu denken, ihm noch einmal zu widersprechen, dachte er.
»Juet, Wilson und Greene haben uns dem Hungertodpreisgegeben«, sagte John King. »Warum sollen wir sie nicht ertrinken lassen? Warum sollten wir unsere kostbaren Vorräte teilen mit solchem … solchem Geschmeiß?«
Einer der kranken Seeleute, der auch in der Schaluppe gesessen hatte, versuchte es mit einem Anfeuerungsruf: »Hört! Hört!« Doch er klang so heiser, dass es schmerzte, ihm zuzuhören.
Niemand schloss sich ihm an.
»Die Meuterer haben Vorräte gehortet«, erklärte Prickett. »Sie wurden entdeckt, nachdem wir die Männer ausgesetzt hatten. Symmes?«
Auf seinen Wink hin kippte einer der Männer hinter ihm – nein, es war noch ein Junge – ein Fass nach vorn und riss den Deckel ab. Jonas sah verschimmelte runde Käselaibe, aufgetürmtes schimmeliges Brot und grünlich verfärbtes … Fleisch? Sah Fleisch so aus, wenn es ganz und gar verdorben war?
Neben ihm kämpfte Katherine stumm gegen das Erbrechen. Sie hielt sich mit beiden Händen den Mund zu und unterdrückte den Würgreiz.
Jonas hätte das Gleiche getan, wenn er unsichtbar gewesen wäre. So aber biss er die Zähne zusammen und versuchte, nicht an Schimmel und Fäulnis zu denken.
Essen ist nicht so wichtig, sagte er sich. In dem Fisch, den wir 1600 gegessen haben, waren sicher tonnenweise Nährstoffe. Die reichen für Jahrzehnte!
Die Seeleute um ihn herum staunten und jubelten, manche geiferten regelrecht, als habe man soeben vor ihren Augen ein Festmahl offenbart.
»Nun«, sagte Hudson, dessen schroffe Stimme den Jubel durchbrach. »Vielleicht bietet das Mittagsmahl Gelegenheit für eine Extraration Fleisch. Vorausgesetzt, alle kümmern sich um ihre morgendlichen Pflichten. Dieser Verrat hat uns genug Zeit gekostet. Es gibt viel zu tun. Wydowse, nehmt Kurs nach Westen. Alle Mann auf ihre Posten!«
Die Männer zerstreuten sich.
O nein, dachte Jonas. John Hudson war Schiffsjunge, er wird auch irgendwelche Aufgaben und Pflichten haben. Was soll ich nur tun?
Symmes, der Junge, der das Vorratsfass aufgerissen hatte, stieß ihm einen spitzen Ellbogen in die Rippen.
»Du musst in den Ausguck«, höhnte er.
»In den A-Ausguck ?«, wiederholte Jonas und warf Katherine einen ratlosen Blick zu.
Diese riss Mund und Augen auf.
»Gewiss«, sagte Symmes. »Versuch erst gar nicht, dich zu drücken.
Ich
klettere heute nicht hoch!«
Er wies mit einem knochigen Finger geradewegs in den Himmel hinauf.
Jonas legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben … höher und höher … und höher.
Ein hölzerner Bottich befand sich hoch oben am Ende des Großmasts, praktisch in den Wolken.
Es war das Krähennest.
» I-Ich … kann nicht«, sagte Jonas. »Nicht heute.«
Symmes trat Jonas mit aller Kraft auf den Fuß und drehte seinen eigenen Fuß ein paar Mal hin und her, damit es noch mehr wehtat.
»Aye, ist das dann nicht Meuterei?«, fragte er. »Ein Schiffsjunge, der sich weigert, ins Krähennest aufzuentern?« Er verstärkte den Druck auf Jonas’ Fuß, dass diesem der Schmerz das Bein hinaufschoss. »Glaub nicht, ich würde das nicht melden.«
Keine Bange
, hätte Jonas am liebsten gesagt
. Ich glaube dir! Du würdest es melden! Du würdest hochklettern und mich aus dem Krähennest werfen, wenn du der Ansicht wärst, dass es dir nützt!
»Ich geh ja schon! Ich geh ja schon!«, sagte er.
Er packte eine Webleine.
Zwölf
Der echte John Hudson wäre deutlich schneller im Krähennest angekommen, vermutete Jonas.
Ich habe keine Höhenangst, sprach er sich Mut zu, während er sich Stück für Stück hinaufzog, dabei immer wieder anhielt und sich dann zwang weiterzuklettern. Ich. Habe. Keine.
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