Die Gewandschneiderin (German Edition)
Kopf.
"Gewandschneidern ist es verboten, auf Vorrat zu arbeiten. Der Kunde bringt Stoff, wir schneidern. Ich verwende nur gängige Tuche für die vorgefertigten Kleidungsstücke, und kein Mensch bemerkt den Unterschied. Wenn du mich verrätst, verweist man mich der Zunft. Oder stellt Schlimmeres mit mir an."
Anna sog scharf die Luft ein. Das hatte sie tatsächlich nicht gewusst.
"Warum hast du diesen Vorrat angelegt?" Die vertraute Anrede war ihr herausgerutscht, aber Meister Spierl schien nichts dagegen zu haben.
"Schau auf meine Hände !"
Sie starrte auf die geschwollenen Knöchel , und verstand, was er meinte. An guten Tagen war er ein Meister seines Faches, aber an schlechten konnte er nicht einmal die Schere halten. Und die Kunden wollten ihre Kleidung pünktlich. Die Schneiderei Spierl sei berühmt für ihre Zuverlässigkeit, hatte Jan ihr stolz erzählt. Ihr wurde klar, was das bedeutete.
"Danke" , sagte sie.
Spierl rieb sich die Nase. Im Schein der Lampe wirkten die Schatten auf seinem Gesicht wie Wolkenberge vor einem Gewitter, und seine Stimme klang drohend.
"Fühl dich nicht zu sicher. Wenn du irgendjemandem davon erzählst, werde ich behaupten, ich hätte dich auf einem Besen reiten sehen. Wem wird man eher glauben? Dir, einer zugelaufenen Näherin? Oder einem Schneidermeister?"
Bei diesen Worten wurde Anna ganz bang zumute. Sie war von Spierl abhängig - und er von ihr. Das war ein klares Abkommen.
Ihre Kammer schien Anna nicht mehr so sicher und gemütlich wie noch in der Nacht zuvor. Mit ihrem übereilten Geständnis, mit links zu arbeiten, hatte sie alles verändert. Vielleicht hatte er sie angelogen, vielleicht durfte er durchaus auf Vorrat arbeiten. Vielleicht wog er sie in falscher Sicherheit, um leichtes Spiel zu haben. Anna trommelte mit den Fingerknöcheln gegen das Regal.
"Zur Hölle mit den Männern!"
Doch sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte - es war ihre eigene Schuld, dass alles so gekommen war.
Endlich betrat Jan die Nähstube. Anna war die Erste gewesen, wie immer. An diesem Tag hatte sie besonders ungeduldig auf den Gesellen gewartet, obwohl er gestern so abweisend gewesen war. Auf dem Weg zu seinem Tisch würdigte er Anna keines Blickes, aber nachdem er seine Sachen abgelegt hatte, wandte er sich zu ihr um. Sein Gesichtsausdruck war offen wie immer.
Er setzte sich auf die Kante seines Tisches und klopfte mit allen zehn Fingern nacheinander gegen den Rand des Möbelstücks. Als er fertig war, begann er von Neuem mit dem aufreizenden Fingerspiel.
"Was meinst du, sagt er uns gleich , wer von uns beiden mit nach Worms darf, oder spannt er uns wieder auf die Folter?"
Kurz war Anna versucht, dem Gesellen seine Unfreundlichkeit vom Tag zuvor heimzuzahlen und so zu tun, als hätte sie ihn nicht gehört. Aber sie musste unbedingt etwas von ihm erfahren.
"Er sagt es euch." Anna lächelte. "Bestimmt."
Jan lächelte zurück, nahm die Finger vom Rand des Tisches und setzte sich auf seinen Platz.
"Kann ich dich auch etwas fragen?"
"Hm?"
"Warum arbeiten wir nicht einfach auf Vorrat? Dann könntet ihr beide mit ...", begann Anna.
"Ist nicht erlaubt “, unterbrach Jan sie sogleich. „Schneider schneidern, Händler handeln. Sie bringen ihren Stoff, wir machen was daraus. Das weiß doch jedes Kind. Außerdem müssen die Einkünfte hier weiterlaufen. Wer weiß schon, wann ein Kaiser zahlt?"
Anna hob die Schultern.
"Ich komme nicht von hier und dachte, bei euch ist das vielleicht anders", erwiderte Anna, doch Jan schien seine eigenen Gedanken weiterzuspinnen und hörte nicht mehr zu.
Dietrich betrat den Raum, verquollen wie jeden Morgen und gerade noch rechtzeitig, denn Spierl folgte ihm auf dem Fuß. Erleichtert über Jans Antwort, fiel es Anna leicht, dem näher tappenden Meister einen freundlichen Morgengruß entgegenzurufen, doch der nickte nur knapp und würdigte sie keines Blickes. Zwei leinene Packen unter die kurzen Arme geklemmt, wuchtete er so heftig erst den einen auf Jans Tisch, dann den anderen auf Dietrichs Arbeitsplatte, dass die Flusen nur so flogen.
"Jan, Dietrich, es ist so weit", erklärte der Gewandschneider.
Jan war sofort still, Dietrich fingerte noch einen Augenblick lang an einem Stoffstreifen herum, bevor er sich seinem Herrn zuwandte.
"Seit Tagen geht es doch bei euren Streitereien nur um das eine ...", fuhr Meister Spierl fort.
Dietrich warf Anna einen so begehrlichen Blick zu, dass sie zusammenfuhr. Der Meister hieb dem dreisten
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