Die Gewandschneiderin (German Edition)
zerkratzen, zog Anna nur die Tür zu und legte den Riegel vor. Sollte er doch sein Gift versprühen, heute war es ihr gleichgültig.
Vertrauen
Immer wieder setzte der Meister die Schere an, nur um gleich darauf zu fauchen wie ein wütender Kater und den Stoff neu zurechtzulegen. Anna hatte ihn schon den ganzen Tag über beobachtet. Kein Wunder, dass er nicht schneiden konnte: Seine Finger waren rot und geschwollen. Schließlich warf er die Schere auf den Tisch, griff nach der Weidenrute und stand auf. Er humpelte, also taten ihm auch die Füße weh. Trotzdem wirkte er nicht so mürrisch wie sonst, wenn er Schmerzen hatte, im Gegenteil.
"Für heute machen wir Schluss . Jan und Dietrich, ihr habt den Rest des Tages bis zum Essen frei. Genießt die Muße, denn morgen früh habe ich eine Überraschung für euch. Ich verrate nur so viel: Es geht um die Reise zum Kaiser."
"Wer ..." Weiter kam Dietrich nicht, Meister Spierl unterbrach ihn.
"Morgen. Ruh d ich aus, du wirst deine Kräfte noch brauchen."
Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Gesellen aus, und Anna war enttäuscht. Bedeutete Spierls Ratschlag, dass Dietrich ihn tatsächlich auf der Reise begleiten durfte? Sie hätte Jan die Ehre gegönnt, für den Kaiser zu nähen, statt hierzubleiben und Hemden zu fertigen. Andererseits - hatte der Meister nicht auch Jan freigegeben und ihm empfohlen, sich auszuruhen?
Ohne ein Wort verließen die beiden die Nähstube, und Meister Spierl trat neben Anna ans Fenster. Nachdem die Tür zugefallen war, seufzte er und legte die Weidenrute auf die Fensterbank. Ihm mussten die Hände arg wehtun, er legte die Rute sonst nie fort.
Anna ließ die angefangene Arbeit im Schoß ruhen und blinzelte zu ihm hoch.
" Die Hände tun Euch weh, nicht wahr?"
"Du k annst für heute auch aufhören", murmelte Spierl und knetete seufzend die Finger.
„Danke“, sagte Anna und legte den Stoff zusammen. Lieber hätte sie weitergearbeitet, so wäre die Zeit bis zum nächsten Tag schneller vergangen. Aber es tat sicher auch gut, wenn sie einmal von der vielen Arbeit ausruhte.
Anna hatte sich auf ihrem Lager ausgestreckt, aber die Gedanken hielten sie wach. Natürlich wollte sie wissen, wer mit Meister Spierl nach Worms reisen durfte. Noch drängender aber war ihr Wunsch, endlich mit dem Nähen ihres Kleides anzufangen. Erst bei Tageslicht hatte sie erkannt, in welch wundervollem Rot der ungewöhnliche Stoff leuchtete. Bläulich kalt wirkte er, ganz so, wie sie sich Purpur vorstellte. Sie musste in der nächsten Nacht den ganzen Korb schaffen; die Arbeit mit der Rechten tagsüber zu bewältigen, war schon an gewöhnlichen Tagen schier unmöglich. Erst recht an einem Tag wie diesem. Dabei war Meister Spierl immer dann besonders gut auf sie zu sprechen, wenn er den Korb leer vorfand. Wenn sie die Nacht hindurch nähte, konnte sie ihn am nächsten Morgen bitten, ihr Garn und eine Schere zu geben. Sie arbeitete inzwischen schon seit mehreren Wochen für ihn und hatte bisher kein Geld ausgegeben. Der gesparte Lohn würde also für das Nötige reichen. Anna konnte es kaum erwarten, das Kleid anzuprobieren. In ihrem Kopf war es schon fertig. Sie würde es eng an den Körper schneidern, dann brauchte sie nicht so viel Stoff. Und für die Ärmelabschlüsse würde sie sich eine Borte besorgen, sobald sie genug Geld zusammen hatte.
Es war ruhig auf dem Flur. Anna schlich hinunter zur Nähstube und lugte durch den Türspalt. Nichts als das Licht des halben Mondes schwebte in dem Raum. Es war zu dunkel zum Nähen, sie brauchte die Öllampe.
Die Küche war ebenso so leer wie der Rest des Hauses. Hier brannte im Küchenofen Tag und Nacht ein Feuer. Wiffis Lampe war mit dem langen Span rasch angezündet. Im Schein der zuckenden Flamme huschte Anna zur Nähstube und zog die Tür hinter sich zu.
Wie lange nähte sie schon? Anna wusste es nicht. Müdigkeit hatte die Aufregung des Tages vertrieben und legte sich wie ein wollener Umhang über ihre Sinne. Nur das dringende Bedürfnis, sich zu erleichtern, hielt sie wach. Sie gähnte und blickte in den Korb. Noch drei Teile. Sie würde auf den Innenhof zum Abtritt gehen und in der frischen Luft wieder wach werden.
Zurück im Flur , stutzte Anna. Hatte sie nicht die Tür geschlossen, damit keiner den Schein der Lampe entdeckte? Sie horchte. Außer Wiffis Schnarchen war kein Laut zu vernehmen. Sie hob die Schultern, betrat die Nähstube und schloss die Tür mit aller Sorgfalt.
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