Die Gewandschneiderin (German Edition)
Der Mond war inzwischen hinter einer Wolke verschwunden. Es war so dunkel, dass selbst das Licht der Öllampe Anna blendete. Sie ging zu ihrem Schemel und griff nach einem der Nähstücke. Nur noch drei Teile, dann konnte sie ins Bett fallen. Das eine Stück war mit der Linken schnell genäht, sie langte nach einem halb fertigen Hemd und fädelte den passenden Faden ein.
"Ich habe mich schon oft gefragt, warum der Korb abends halb voll und morgens ganz leer ist." Die Stimme des Meisters.
Anna fuhr hoch und stie ß gegen die Lampe, sie kippte um, und das Öl entflammte. Der Schatten am Tisch. Er musste im Schatten gesessen haben, und sie hatte ihn nicht gesehen. Annas Herz raste, der Schein des brennenden Öles breitete sich aus wie ein Vorbote auf das zu erwartende Unheil. Sie wich zurück.
"Mach es aus, rasch!" , rief Spierl, aber Anna stand nur da und starrte auf die Flammen.
"Anna! Herrje, muss ich denn alles selbst machen?" Seine steifen Finger umklammerten das letzte Nähstück - die Nadel hing noch daran - und schlugen damit die Flammen aus. Anna hoffte, dass das Feuer ihn noch eine Weile beschäftigte, bevor das Unvermeidliche sie überwältigte. Er würde sie verraten, und man würde sie verbrennen. Das wirre Haar des Meisters tanzte vor ihren Augen, dann sank sie zu Boden.
Der Wald war düster. Knorrige Zweige peitschen ihre Wangen. Sie rannte. Wer rief da? Ihre Lider flatterten, und plötzlich stand die Mondsichel wieder über den Bäumen.
"Anna ! Anna, wach auf! Nun mach schon, Kind! Es ist kalt auf dem Boden."
Die Stämme und Zweige wichen den Runzeln des Meisters, dessen behaarte Nase dicht über ihrem Gesicht schwebte. Er wedelte mit den knotigen Fingern. Die Finger - was hatten sie mit den Ästen zu tun? Es musste ein Traum gewesen sein.
"Au!" Meister Spierl hatte ihr auf die Wange ge schlagen. Sie setzte sich auf.
"Du bist wieder da, schön , schön. Warum wolltest du mein Haus abbrennen?“, fauchte er.
Ein Schluchzer entrang sich Annas Kehle.
"Ich wollte das Haus doch gar nicht abbrennen."
"Du hast keinen Finger gekrümmt, um mir zu helfen. Du wärst verbrannt, Wiffi wäre verbrannt, ich wäre verbrannt!"
"Ich werd e sowieso brennen! Welchen Unterschied macht das für mich?", stieß sie hervor.
"Pssst! Willst du alle wecken, dummes Ding ? Wieso solltest du brennen?"
"Weil sie mich bestimmt mit Feuer prüfen, deshalb."
"Bist du beim Sturz auf den Kopf gefallen?" Die rauen Finger des Meisters fuhren ihr suchend durchs Haar, bis sie seine Hand wegstieß.
"Ihr habt alles gesehen. Ich bin keine Hexe, ich bin nur mit der Linken schneller. Und nun verratet mich, holt schon die Schergen, damit wir es hinter uns bringen."
Meister Spierl starrte sie mit offenem Mund fassungslos an. Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen wie wulstige Nähte unter einem Heftstich. Endlich glitt ein Ausdruck des Verstehens über seine Züge.
"Du meinst, du nähst mit der linken Hand?" , fragte Meister Spierl.
Was fragte er so einfältig? Hatte er sie nicht sitzen und nähen sehen? Ihr stockte der Atem. Er hatte es nicht gemerkt! Sie hatte sich selbst verraten.
Anna schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte . Wie heftig sie auch dagegen ankämpfte, es gab kein Halten mehr.
Erst nach und nach wurde ihr bewusst, dass ihr Meister Spierl unbeholfen über den Rücken strich, als wolle er Flusen entfernen. Würde er versuchen, sie zu trösten, wenn er ...? Die aufsteigenden Schluchzer verebbten, und
leise Zuversicht gewann die Oberhand. Die nächtliche Stille schien seltsam laut nach dem Lärm.
"Warum sollte ich dich verraten?" , flüsterte Meister Spierl.
Anna schnäu zte sich. Wie konnte er eine so dämliche Frage stellen? Sie schniefte.
"Weil Männer nun einmal so sind, das ist doch bekannt. Wenn sie etwas zerstören können, dann zerstören sie es."
Spierl nickte bedächtig.
"Kann sein. Ich bin kein solcher Mann."
W ie ein eingewebter Goldfaden durch schwarzen Stoff wand sich eine Faser Fröhlichkeit durch Annas Gedanken. Sie musterte den Gewandschneider: die nackten Füße unförmig angeschwollen, die Haare wirr, die Schultern schmal, der Hals lächerlich unmännlich mit dem zu kleinen Adamsapfel unter dem dicken Kropf und die Stimme zu hoch. Dazu die hervorstehenden Augen. Mühsam unterdrückte Anna ein mitleidiges Lächeln. Der Meister hatte recht - wenn sie es genau betrachtete, war er kein richtiger Mann.
Doch die Fröhlichkeit verflog schnell. Sie hatte auch an Heinz geglaubt, und
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