Die Gewandschneiderin (German Edition)
ich sagen? Schaut es euch an!"
Neugierig beugte sich Anna vor. An wen hatte der Meister den Auftrag vergeben? Gab es in der Stadt Gesellen von anderen Gewandschneidern seines Rufes? Dietrich versperrte ihr die Sicht, doch der Meister drängte ihn beiseite, damit Anna etwas sah. Auf dem Tisch lag ein Kleid. Ein rotes Kleid. Ihr Kleid.
Ihr Herzschlag drohte auszusetzen. Wenn Dietrich erfuhr, wessen Kleid das war, würde er aus der Haut fahren. Anna schüttelte sich. Ihr schwindelte. Sie hielt sich an der Tischkante fest, presste die Kuppen gegen das glatte Holz und heftete den Blick auf ihre weißen Finger. Der Meister würde ihr Kleid, das Kleid, mit dem sie so zufrieden gewesen war, prüfen und genauso schlecht beurteilen wie die Gewänder seiner Gesellen. Er hatte es ja schon gesagt - die Ärmel gefielen ihm nicht. Und dann die Stelle, an der sie mit der Rechten genäht hatte, weil die Linke zu erschöpft gewesen war ...
"Anna!"
Sie hob den Kopf. "Ja?"
"Was sagst du als Näherin zu den Stichen?" , fragte der Meister.
Sie schluckte. "Die meisten sind gut, klein und gleichmäßig. Nur hier“ - sie zeigte auf eine bestimmte Stelle – „sind sie ungleichmäßig und zu breit."
Der Meister nickte.
"Das Kleid ist also auch nicht fehlerfrei", höhnte Dietrich. "Außerdem ist es völlig altbacken mit den engen Ärmeln. Wer trägt denn noch so etwas?“ Beifallheischend sah er sich um. "Der stammt doch sicher vom Land, dieser Schneider. "
"Aber es ist gut gearbeitet. Saubere Schnitte, gerade und flache Nähte, kleine Stiche und sparsam im Schnitt. Daran solltet ihr euch ein Beispiel nehmen", belehrte Meister Spierl seine Gesellen.
"Hatte er wirklich auch nur drei Tage Zeit?", fragte Jan. Meister Spierl nickte. Jan wankte zu seinem Tisch und setzte sich. Dietrich war hochrot im Gesicht.
"Das lass ich trotzdem nicht mit mir machen. Ich bin hier der Geselle. Ich mu ss den Gestank aushalten, Euer Geschrei und das sinnlose Geschwafel der alten Närrin. Wenn Ihr zum einzigen wichtigen Auftrag dieses Jahres einen anderen mitnehmt, dann gehe ich, und zwar für immer."
Stille senkte sich über d ie Stube. Der Meister antwortete nicht, er klopfte mit seiner Rute in die offene Hand.
Die Farbe verblasste in Dietrichs Gesicht so schnell wie ein frischer Fleck im Bleichbad.
"Gut. Geh nur. Deinen Wochenlohn bekommst du von Wiffi."
"Ich..." , hob Dietrich an.
"Genug. Ich habe dir lange genug alles nachgesehen. Hinaus mit dir! Hinaus!"
Dietrich wandte sich zum Tisch um und griff unter die Platte, als wolle er ihn umwerfen. Er zerrte mit aller Kraft, doch das massive Möbelstück hob sich lediglich auf Schemelhöhe, dann krachte es wieder auf die Dielen zurück. Dietrich ließ davon ab und trat gegen die Tür, dann stürzte er nach draußen.
Der Weg war frei für Jan! Anna freute sich über alle Maßen für ihn. Ohne Dietrich ließ es sich hier auch mit Wiffi aushalten, sie konnte tagsüber nähen, wie sie wollte ...
Jan räusperte sich. "Wer?"
"Wer was?", fragte Meister Spierl.
Jan starrte zu Boden, seine Stimme war kaum zu hören. "Wer hat das so schnell geschneidert? Mir ist es gleich, aber Mutter ... will es sicher wissen."
Meister Spierl sah Anna aufmunternd an. Sie nickte zögernd.
"Anna."
"Also musste der Schneider doch nicht selbst nähen? Wie ungerecht! Hätte Anna mir geholfen, hätte ich es auch geschafft!", rief Jan empört.
Meister Spierl sprach mit ihm sanft wie mit einem müden Kind, das noch ein paar Schritte gehen soll .
"Du hast mich falsch verstanden. Anna hat das Kleid nicht nur genäht, sie hat es auch entworfen und geschneidert."
"Anna?"
"Ganz recht. Und ich gehe noch einen Schritt weiter. Ich sorge selbst dafür, dass Friedrich während seiner Trauung kein schlecht genähtes Gewand aus meiner Werkstatt vom kaiserlichen Wanst rutscht und er mich nach der Messe zu Jagdhundfutter verarbeiten lässt."
Anna verstand kein Wort, und auch Jan blickte begriffsstutzig drein.
Meister Spierl grinste und hieb ein einziges Mal mit der Rute auf seine Hand.
"Ich nehme Anna mit."
Reise nach Worms, im Jahre 1235
Anna ruhte auf dem gleichen Lager, von dem sie sich am Morgen erhoben hatte, aber das nächtliche Dunkel schimmerte voller Verheißung, und die Stoffreste im Regal verströmten einen geheimnisvollen Duft. Die Lebenssäfte pulsierten unter der Haut und in den Ohren. Die Kopfhaut kribbelte, als wäre sie in einen Ameisenhaufen geraten. Konnte es wirklich sein? Oder war es ein Traum, die
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