Die Gewandschneiderin (German Edition)
herüber. Er wäre ihr also keine Hilfe, falls der Fuhrknecht zudringlich würde. Sie musste sich selbst helfen, und ihre Waffe, der vertraute Stock, war schnell zur Hand. Er hatte ihr immer gute Dienste geleistet, sie hielt ihn fest umklammert. Der Mann am Feuer war noch wach. Dann blieb sie es eben auch.
Ein seltsames Geräusch schreckte Anna auf. Was war das gewesen? Die Augen weit aufgerissen, den Stock fest umklammert, starrte sie in die Dunkelheit und versuchte etwas zu erkennen. Wo war der Knecht? Die letzten Schimmer der erlöschenden Glut beleuchteten seine Umrisse. Wie ein schattiger Gebirgszug im Abendrot hob sich sein Körper von der undurchdringlichen Schwärze der Nacht ab. Der Gebirgszug hob und senkte sich gleichmäßig, und das Grollen, das aus seinen Tiefen emporstieg, zeigte an, dass er schlief. Anna ließ sich auf das Lager zurücksinken; sie hatte sich getäuscht. Plötzlich schoss ein heulender Geist an ihr vorbei und verschwand zwischen den Bäumen. Sie fuhr so schnell hoch, dass sie sich den Kopf an einem Ast stieß und vornüber auf die Knie fiel.
„ Was ...?“, schrie sie erschrocken.
„Ich bin wach, ich bin wach ...“ Den Knecht hatte der Lärm ebenfalls aufgeschreckt. Wohin war der Geist entschwunden? Machte er den Meister nieder? Anna blickte zu Spierls Nachtlager hinüber. Es war leer. Der Gewandschneider war verschwunden, und mit ihm der Geist.
„Meister Sp ierl?“ Anna, wieder auf den Füßen, traute sich kaum, lauter zu rufen. Was, wenn der Geist zurückkam?
„Wer ruft mich?“ Eine Stimme drang von den Birken herüber. Vorsichtig schlich Anna näher.
Da tauchte zwischen den Baumstämmen ein Kopf auf - der des Meisters. Spierl sah aus wie ein lebender Leichnam – mit kreidebleichem Gesicht und in seinem weißen Schlafhemd. Wann hatte er sich das übergezogen?
Anna stürzte auf ihn zu und zog ihn an den dürren Ärmchen hinter dem Baum hervor. Da hatte sie ihr Gespenst.
„ O Anna, ich habe schrecklichen Durchfall!“, jammerte der Alte. Dann erbrach er sich vor ihren Füßen und sank zusammen.
Es war schwierig gewesen, den zappeligen Gewandschneider zu waschen und umzuziehen, aber schließlich hatte sie es geschafft. Immer wieder war er vom Lager hochgeschreckt und wollte herumlaufen. Er rief nach Wiffi oder wich vor etwas Bedrohlichem zurück, das nur er sah, und klagte herzerweichend in einem fort. Anna schlug das Herz bis zum Hals. Sie hätte besser aufpassen müssen, sie hatte gewusst, dass er die Heringe nicht essen durfte. Was sollte sie tun? Wenn er zu krank wurde, um die Reise fortzusetzen, dann hatte sie sich das selbst zuzuschreiben. Mit Tränen der Wut in den Augen drückte sie den Gewandschneider immer wieder auf sein Lager nieder. Doch je mehr sie sich bemühte, umso heftiger wehrte er sich.
„Lass mich helfen!“
Anna zuckte zusammen. Sie hatte die Schritte des Fuhrmannes nicht gehört. Erschöpft trat sie zur Seite. Behutsam, als hätte er es mit keinem Mann, sondern mit einem Kind zu tun, griff der grobschlächtige Bursche mit seinen schaufelgroßen Pranken unter den Nacken und die Knie des Meisters und hob ihn hoch.
„ Schüttle die Decken aus und zieh das Laken unter ihm vor!“, wies er Anna an. Dann bettete er den Kranken in eine bequemere Lage und deckte nur das leichte Laken über ihn. Endlich kam Meister Spierl zur Ruhe.
Anna konnte es kaum glauben.
„Wie hast du das geschafft?“, flüsterte sie, bemüht, den Schlafenden nicht wieder zu wecken.
„Dem war einfach warm, glaub ich. Eins meiner Kinder hatte mal ein schlimmes Fieber, da hat es auch wirr geredet. Mein Weib hat es genauso gemacht. Und sie hat ihm kalte Lappen um die Beine ge wickelt, bis das Fieber weg war.“
Anna legte dem Meister eine Hand auf die Stirn - sie war glühend heiß.
„Danke. Wenn er morgen noch fiebert, versuche ich es mit den Tüchern.“
Das Zwitschern der Vögel weckte Anna. Warme grüngoldene Flecken jagten sich im Takt der zitternden Blätter und vergessenen Dunstreste über den Boden und luden zum Fangenspiel ein. Der Regen war vorbei, es würde ein heißer Tag werden. Annas Blick schweifte zu Spierls Lager hinüber. Er lag noch dort, wie der Knecht und sie ihn in der Nacht zuvor gebettet hatten. Sorge grub scharfe Zähne in Annas Gedanken. War er ...? Barfuß eilte sie zu ihm und betrachtete aufmerksam die schlafende Gestalt. Die Brust hob und senkte sich – wenn auch viel zu schnell. Die Stirn war immer noch heiß. Gott sei Dank, er
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