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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Niespor
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tastete, keiner der Stoffe war so kostbar wie das golddurchwirkte Wams des geheimnisvollen Reiters, den sie verspottet hatte. Welchen Rang bekleidete ein Mann, der solche Kleider trug? Sie hoffte inständig, ihm nie wieder zu begegnen.
    Eine Erregung, stark wie das Brausen eines Sturmes, erfasste die Menge. Das Gedränge wurde unerträglich. Erst nach ei ner Weile sah Anna den Anlass: Die Menschen wichen zurück und bildeten eine Gasse. Zwei schwarze Wächter, bewaffnet mit Spießen, schritten vorweg. Zwei andere führten einen Mann herbei, der sich mit gesenktem Kopf in sein Schicksal gefügt zu haben schien. Den Abschluss schien ein weiteres Wächterpaar zu bilden, jedenfalls hüpften hinter dem Gefangenen zwei Spießspitzen im Takt der Schritte auf und ab. Anna verrenkte sich den Hals. Abgesehen von dem wirren Haar und dem demütigen Blick wirkte der Mann nicht wie ein Gefangener. Schneeweiße Strümpfe, ein fettes Gesicht unter dem Bart und ein roter Mantel verrieten, dass er sonst eher Richter als Beklagter war.
    Ein Weib neben ihr rempelte sie nun schon zum dritten Mal an. Unwillig wandte Anna den Kopf, doch die scharfe Abfuhr blieb ihr im Hals stecken. Die Alte hatte einen Apfel aus dem schäbigen Beutel geklaubt, reckte den Arm und warf ihn auf den Gefangenen, traf aber daneben.
    „Heinrich ist der König, lasst ihn los, ihr dreckigen Köter, loslassen ! Ihr werdet dafür zahlen, bei Gott, das werdet ihr!“, schrie die Alte.
    Sie warf nicht auf den Gefangenen, sie warf auf die kaiserlichen Wachen!
    Törichtes Weib, hatte sie keine Angst um ihren faltigen Hals? Die Wächter waren mittlerweile heran, ja, fast schon vorbei. Anna stand nur wenige Schritte von dem Gefangenen entfernt, und die Alte hielt bereits den nächsten Apfel in der Hand. Auf die Entfernung konnte nicht einmal sie danebentreffen. Anna fiel ihr in den Arm und drängte sie zurück. Der Apfel fiel unmittelbar hinter dem Wächter zu Boden. Der Schwarze mit dem narbigen Gesicht musste gute Ohren haben, trotz des Lärms wandte er sich um und blickte zu Boden. Da lag der Apfel, aufgeplatzt und voller Maden. Er funkelte Anna böse an, starrte auf ihren Arm, dann auf die Alte. Verstehen durchzuckte seine Züge. Anna sah die weißen Zähne aufblitzen, und schon war der kleine Trupp vorbei.
    Die Alte riss sich los und verschwand in der Menge. Anna wurde weitergedrängt und stie ß mit der Schulter schmerzhaft gegen etwas Hartes. Ein Türrahmen - sie war endlich am Eingang angelangt.
    Es ging durch das Tor in den Saal , und nach der strahlenden Sonne draußen schienen sich Dämmerlicht und Kälte zu einem bösen Vorzeichen zu verweben. Anna überlief eine Gänsehaut, sie schüttelte sich. Was sie sich nur wieder einbildete ...
    Der große Saal war keine Einbildung. Lärm und Enge standen dem Gedränge draußen in nichts nach. An die kalte Steinmauer gedrängt, befand sich Anna irgendwo am Rand, und noch immer schoben die Menschen nach, als hinge ihr Leben davon ab. Meister Spierl war schon längst nicht mehr zu sehen. Obwohl sie inzwischen ziemlich weit vorn stehen musste, war ihr die Sicht versperrt. Einen Blick auf die Stelle zu werfen, wo sie den Kaiser vermutete, schien unmöglich.
    Erst als ein dumpfes Pochen zu hören war, ließ das Scharren und Schieben nach, und Stille kehrte ein. Anna sah noch immer nichts, aber die Stimme des Ausrufers war deutlich zu verstehen.
    „Heute, am vierten Tag des siebten Monates, wird der von Gott befohlene Kaiser zu Gericht sitzen über Heinrich, König von Deutschland ...“
    Ein König also. Kein Wunder, dass er so teure Kleider trug. Annas Gedanken schweiften ab. Wie schade, dass sie nichts sehen konnte. Nun hatte sie das Bild aus Meister Spierls Stube so lange verfolgt, und sie konnte nicht einmal von Weitem einen Blick auf den Kaiser erhaschen. Noch einmal reckte sie den Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie musste recht dicht am Geschehen sein, denn der Wächter mit den Narben starrte ihr geradewegs ins Gesicht, keine fünf Ellen von ihr entfernt.
    „Mach dich nicht so lang, dumme Gans !“, zischelte es hinter ihr. Auch vor Anna wurde es unruhig. Die Menge teilte sich, und eine glänzende Speerspitze wurde auf Hüfthöhe sichtbar. Der Schwarze strahlte sie an.
    „Komma her, hier ist gut gucken.“
    „Danke.“
    Anna zögerte nicht lange. Sie umfasste die Spitze der Waffe und hangelte sich entlang des hölzernen Schaftes auf den Wächter zu. Der nahm sie am Arm und zog sie weiter nach

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