Die Gewandschneiderin (German Edition)
über. Das Tuch war in sich gemustert, glitzernde Goldfäden bildeten ein Muster mit dem feinen Glanz, den, wie sie inzwischen wusste, nur Seide erzeugen konnte. Sie hatte von solchen Stoffen gehört, aber noch nie etwas dergleichen zu Gesicht bekommen. Es war ein Brokat. Wie im Fieber streckte sie den Arm aus, teils um dem Mann vom Boden hochzuhelfen, aber zum Gutteil auch um diesen Stoff einmal in ihrer Hand zu spüren. Wie würde er sich anfühlen, weich oder fest? Anna hatte nur Augen für den Ärmel, deshalb sah sie den Schlag nicht kommen. Erst als sie die Wucht spürte, mit der ihr Arm zur Seite gestoßen wurde, und der Mann, der ohne Hilfe aufgestanden war, in seiner massigen Gestalt vor ihr aufragte, konnte sie wieder klar denken. Sie spürte keine Angst, sie spürte kein Entsetzen. Nur Enttäuschung darüber, dass sie den Stoff nicht hatte berühren dürfen.
„Hast du deinen Spa ß gehabt, Miststück?“, knurrte der Bärtige, ergriff sein Schwert, humpelte zum Pferd, wischte ihm mit dem Brokatärmel das Auge sauber und schwang sich in den Sattel.
„He !“, rief er noch, dann brach er durch das Gebüsch.
Einen Moment lang tauchte ein zweiter Reiter hinter den Stämmen auf. D as Haar rot wie Feuer, das Pferd schwarz, mehr war nicht zu sehen - mit Ausnahme der Augen. Sie waren blau, blau wie Annas Kleid.
Die Nadel fand die richtigen Stellen wie von allein, Anna ließ ihre Gedanken schweifen. Wer war der Reiter mit den blauen Augen gewesen? Gab es hier in Worms mehrere Männer mit solchen Augen? Oder hatte sie tatsächlich den einen gesehen, der sie schon in Trier von seinem Bild herab mit den Augen verfolgt hatte? Die Nadel rutschte ab, und sie stach sich in den Finger.
In der Nähstube herrschte Stille, dabei war es Stunden zuvor schon aufregend zugegangen. Ein Bote hatte neue Schnüre von der zukünftigen Kaiserin und ihren Damen gebracht, und tatsächlich, die Maße einer der Hofdamen hatten sich verändert. Anna runzelte die Stirn. Nur das Mittelband war weiter; Arme, Handgelenke, alles andere hatte die gleichen Abmessungen wie vorher.
„Meister, d ieses eine Band hat einen ganzen Knoten mehr, die anderen sind wie vorher.“
Meister Spierl öffnete die Augen und setzte sich im Sessel auf. „Hm. Ist es das Mittelband?“
„Ja. Wie konntet I hr das wissen?“, fragte sie verblüfft.
„Ich wei ß noch viel mehr. Sie wird nicht mehr lange Hofdame sein.“
Narrte er sie? Anna gab nicht auf. „Woher wollt Ihr das wissen?“
Der Gewandschneider schmunzelte. „Die arbeitet bald als Amme, wenn du verstehst , was ich meine ...“
Anna stie ß die Luft aus und fasste sich an die Stirn. Natürlich, das war die Erklärung.
Es klopfte heftig , und bevor Meister Spierl antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen.
„Befehl des Kaisers, alle in den Ratssaal ! Sie bringen Heinrich zur Verhandlung.“
Bevor sie auch nur eine Frage stellen konnten, war der Wächter wieder verschwunden. Anna seufzte und legte die Nadel beiseite.
Meister Spierl erhob sich mühsam. Wie immer, wenn er Schmerzen hatte, nörgelte er an allem herum.
„Eines frage ich mich: W enn der Kaiser wirklich von der Jagd zurück ist, warum kommt er dann nicht her, um sich vermessen zu lassen? Wenn das so weitergeht, steht das kaiserliche Paar zur Hochzeit in Lumpen da“, grummelte er.
„Ps cht!“ Anna schaute sich um. Gut, dass niemand zugehört hatte. Es stand viel auf dem Spiel.
„Meister“, bat sie, „ein wenig Vorsicht wäre von Vorteil. Wir wollen doch nicht, dass der Kaiser uns den Kopf abschlägt, bevor die Gewänder fertig sind.“
Meister Spierl grunzte und schob seine wehen Füße in die offenen Schuhe. Anna atmete auf. Jetzt war es so weit, sie würde den Kaiser sehen.
Ein Stoß in die Seite warf Anna gegen Meister Spierl, und sie entging nur knapp einem Sturz. Das Gedränge erinnerte an eine Flucht bei einem Brand, nur dass alle in das Gebäude hineinstürmten, anstatt herauszulaufen. Sie folgten dem breiten Menschenstrom über das unebene Pflaster und wurden eins mit der Masse. Woher kamen nur all diese Menschen? In der aufgeregten Menge hatte Anna allerdings auch Gelegenheit, Ärmel und Rockschöße anzufassen, und so wurde ihr die Zeit auf dem Platz vor dem Ratssaal nicht lang. Meister Spierl sah wohl, was sie tat, aber er schmunzelte, und Anna befühlte jeden Stoff, der in ihre Nähe geriet. Blau, aus Leinen. Grau, ganz sicher Wolle. Da, braune Seidenmischung, ganz fein. Doch so lange sie auch
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