Die Gewandschneiderin (German Edition)
Strahlen der Abendsonne. Anna trug den Holzteller mit beiden Händen vor sich her und suchte nach einem sonnigen Platz. Die eine Stelle war nass, eine andere lag einen Schritt neben einem mannshohen Ameisenhaufen. Und so ging sie immer weiter, vorbei an Feldern und Sträuchern, die Sonne im Rücken, bis sie ein seltsames Glitzern zwischen den Stämmen entdeckte. War sie zufällig in die Nähe des Flusses gelangt? Die Bäume öffneten sich und gaben den Blick frei, aber nicht auf das Wasser, wie Anna gehofft hatte, sondern auf eine große Lichtung. Der größte Teil der Lichtung lag schon im Schatten, und die Sonne stand tief. Lange wäre es nicht mehr so warm. Anna setzte sich auf einen Baumstumpf. Das Holz war trocken, weit und breit waren weder Ameisen noch andere Waldbewohner zu sehen, und das Essen duftete köstlich. Lockeres, helles Brot, Äpfel und würziger Käse häuften sich auf dem großen Teller, sogar gebratenes Geflügel fand sich unter dem Brotberg. Erst als sie in den Hühnerschenkel gebissen hatte, merkte Anna, wie hungrig sie war. Sie aß bis zur letzten Krume alles auf und leckte die dicke Soße vom Teller. Ob sie hier jeden Tag so üppig beköstigt wurde? Satt und müde war sie und genoss nach dem Lampenqualm die frische Waldluft in vollen Zügen. Sie setzte sich auf den Boden, lehnte sich an einen Baumstamm und bot das Gesicht den Strahlen der untergehenden Sonne dar.
Feindschaft
Der Lärm war ohrenbetäubend. Anna fuhr hoch und blickte nach oben, als könnten das Brechen der Äste und das Knacken im Unterholz nur ihr gelten. Doch die Buche hinter ihrem Baumstumpf sah aus wie vorher. Das Geräusch war von vorn gekommen, von der Flussseite. Ein graubraunes Etwas segelte über die Lichtung, schoss mit lautem Gijiggig wieder hoch bis auf Kopfhöhe und genau auf Anna zu. Sie riss die Arme vor das Gesicht und lugte unter der Deckung hindurch. Ausgebreitete Schwingen und ein wild rollendes Auge näherten sich, um gleich darauf abzudrehen und den Blick darauf freizugeben, was den Vogel so erschreckt hatte: Er wurde von einem Mann hoch zu Ross verfolgt, der zwischen den Bäumen hervorbrach.
Der triumphierende Ausdruck auf dem Gesicht des Reiters wich plötzlichem Entsetzen. Der Vogel - war es ein Rebhuhn? - schoss auf das Pferd zu, zog nach oben und streifte mit dem linken Flügel dessen Nüstern, bevor er einen Bogen flog und sich keckernd auf einem Ast über dem Pferd niederließ. Das Pferd scheute und stieg, doch der Mann im Sattel hatte sein Ross gut im Griff. Mit Hohorufen, Schenkeldruck und kurz gehaltenen Zügeln brachte er den Schimmel sofort wieder auf alle vier Hufe, obwohl er mit der einen Hand noch den Bogen umfasste. Anna atmete aus und merkte, dass sie die Luft angehalten hatte. Der Reiter ließ die Zügel locker und schob den Bogen in eine Schlaufe. Den Blick geradewegs auf den Schwanz des Vogels dicht über ihm gerichtet, zog er ein kurzes Schwert aus der Scheide. Das Rebhuhn trippelte auf dem breiten Ast hin und her. Dann ging alles ganz schnell. Es erleichterte sich, und der Kot traf den Schimmel am Auge. Er stürmte los, doch der Vogel hatte sich gerade von dem Ast abgestoßen und ging mit einem Schrei in den Sinkflug. Das Rebhuhn streifte das Pferd abermals an den Nüstern und landete auf dem Boden, wo es geduckt davonhüpfte. Das Ross wieherte schrill und stieg erneut, doch diesmal war sein Reiter nicht so wachsam wie beim ersten Mal. Das Schwert noch in der Hand, krachte der Bärtige mit dem Rücken gegen den Ast, geriet mit beiden Ellbogen darüber und hing plötzlich in der Luft, denn das Pferd war vorausgeprescht und schüttelte schnaubend den Kopf, um den Vogeldreck loszuwerden. Anna konnte es kaum glauben - wie stark musste ein Mann sein, um sich so an einem Ast halten zu können? Ein Kichern stieg ihr in die Kehle. Der Mann baumelte an dem Ast wie ein Huhn zum Ausbluten am Balken. Der Schreck, die Anspannung - Anna konnte nicht anders, das Lachen platzte einfach aus ihr heraus. Es hallte seltsam, als breche es sich an den Bäumen und werde doppelt zurückgeworfen.
Dann knirschte es schauerlich , und das Lachen blieb ihr im Hals stecken. Der Ast brach, der Reiter fiel. Ob er sich verletzt hatte?
Anna lief zu dem Mann am Boden, auf dem Rücken lag er, das Schwert neben sich. War es verbogen? Die Klinge war ganz krumm, vielleicht von schlechter Machart. Der Mann hustete, das war gut - er lebte. Erst aus der Nähe sah sie den Stoff seines Wamses. Ihr gingen die Augen
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