Die Gewandschneiderin (German Edition)
Anna auf, und die Ziegen mussten warten, bis die Tränen versiegt waren.
Angeklagt
Sie kannte den Weg zu Johanns Kloster, aber an diesem Tag kam ihr der Gang länger vor als sonst. Sie hatte sich alles gut überlegt. Johann musste dem Vater helfen. Er war ein Mann Gottes, konnte schreiben und lesen, deshalb hatte sein Wort Gewicht. Wenn er den anderen erklärte, dass Wulf unmöglich etwas mit der Brandstiftung zu tun haben konnte, mussten sie ihm glauben.
Endlich tauchte das Tor des Vorwerkes auf. Wulf hatte seiner Tochter einiges über das Vorwerk erzählt, und Anna erinnerte sich noch, dass Johann und seine Mitbrüder eigentlich zum Kloster Marienkamp gehörten, aber hier lebten und arbeiteten.
Der Hof hinter der Pforte war sauber gefegt, und Anna vernahm die Gesänge der Mönche, die gerade ihre Andacht hielten. Sie setzte sich auf eine Steinbank und lauschte. Der Gesang verebbte, und monotones Gemurmel erhob sich. Endlich war das Klatschen platter Ledersohlen zu hören, mit dem sich das Ende der Andacht ankündigte. Anna sah Johann auf den ersten Blick. Der dicke Mönch stach aus der Gruppe seiner schlanken Ordensbrüder hervor wie ein Kuckuck aus einem Bachstelzennest. Als Johann sie entdeckt hatte, kam er mit wippenden Schritten auf sie zu.
„Kind, hast du eine Nachricht?“, fragte er.
Anna nickte und hielt ihm das Päckchen mit dem Pergament hin, das der Vater am Tag zuvor verfasst hatte.
„Sie haben ihn abgeholt … heute morgen“, stammelte sie. „Sie sagen, er ist ein Hexer, und du … du musst …“ Anna schluchzte laut auf. Johann nahm ihren Arm und drückte sie wieder auf die Steinbank.
„Schsch, der Reihe nach! Lass mich erst einmal lesen.“
Johann entrollte das Pergament und las Zeile um Zeile, so schnell, dass es aussah, als schüttele er den Kopf. Schließlich bekreuzigte er sich und sah sie an.
„Hexerei sagst du? Das ist eine schwere Anschuldigung.“
“Aber du weißt doch, dass er so etwas nie täte! Das musst du ihnen sagen, dir glauben sie!“, beschwor sie den Mönch.
Johann rollte das Pergament zusammen und versenkte es zusammen mit dem Päckchen bedächtig in den Tiefen seiner Kutte.
„Halt dich daran, was dein Vater dir aufgetragen hat. Geh zu Rahardta, nimm alles mit. Wenn die Anhörung vorbei ist, kommt dein Vater dorthin.“ Johann zögerte, bevor er fortfuhr. „Oder ich hole dich ab.“
„Das ist nicht möglich! Ich muss bei der Anhörung dabei sein!“, stieß Anna hervor.
Der Mönch zuckte zusammen und hob beschwichtigend die Hände. „Pst, nicht so laut, Kind!“, flüsterte er. „Gilbert führt vermutlich den Vorsitz. Besser, du lässt dich nicht blicken. Er ist … ein gefährlicher Mann, verstehst du?“
Mutlos und ohne ein Wort machte Anna kehrt und lief zum Ausgang.
„Anna!“ , rief der Mönch.
Sie blieb stehen, sah ihn aber nicht an.
„Hör auf deinen Vater, geh kein Wagnis ein“, riet er ihr mit eindringlicher Stimme.
Anna seufzte, ließ die Schultern sinken und rannte durch das Tor auf die Stadt zu.
Schmatzend und mit Pflaumensaft bekleckert, saß Rahardta in der späten Herbstsonne auf der Bank vor ihrer Hütte.
Anna stellte das schwere Gepäck ab und stöhnte erleichtert auf. Der marternde Leibgurt machte ihr mehr zu schaffen, als sie gedacht hatte.
„Falsche Zeit“, tadelte Rahardta.
„Ich weiß, aber es gibt einen Grund dafür“, antwortete Anna.
„Ich musste das ganze Frühwerk allein schaffen.“ Die Alte rieb sich den krummen Rücken. „Das ist besser ein guter Grund, sonst esse ich die Zwetschgen allein.“
„Vater wurde angeklagt. Er soll die Baustelle in Brand gesteckt haben. Und sie sagen, er ist ein Hexer“, stieß Anna hervor.
Wie vom Blitz getroffen sprang die alte Frau auf. „Die sagen was ?“ Rahardta wischte sich den Mund am Ärmel ab und keifte weiter. „Das war doch Gilbert, dieser …“ Sie hustete, und obwohl der Satz unvollendet blieb, wusste Anna, was sie hatte sagen wollen.
„Jedenfalls soll ich …“ Anna stockte. „… soll ich fragen, ob das Gepäck hier bleiben kann, bis ich wiederkomme.“
„Ja, natürlich! Aber willst du nicht erst einmal ein paar Pflaumen naschen?“
Anna nickte, nahm sich eine Handvoll der violetten Früchte und war schon verschwunden.
„Jan“, flüsterte Anna. Doch der Schusterjunge hatte sie nicht gehört. „Jan!“, wiederholte sie.
Das Nachbarskind wandte sich um und spähte über das Gestrüpp, in dem Anna sich versteckt hielt. Neugierig kam er
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