Die Gewandschneiderin (German Edition)
näher.
„Anna!“, rief er. „Was tust du denn da im Busch?“
„Scht, nicht so laut!“, raunte sie. „Aber komm doch einmal her!“ Nur zu gern folgte Jan der Aufforderung, hatte er doch schon häufig Leckereien von Anna bekommen.
„Die gelben Birnen, die ihr euch immer … besorgt, die stammen doch aus dem Garten des Ratsherrn, oder?“, fragte sie.
Jan wich zurück und schüttelte den Kopf. „N…nein, die sind von den Wegebäumen …“, stotterte er.
„Es gibt in ganz Jever keinen Birnbaum als Wegebaum, das weißt du genau. Und ich will ja auch nur wissen, wie ihr so flink in den Garten gekommen seid, ohne entdeckt zu werden“, schmeichelte Anna.
Jan zögerte und musterte sie zweifelnd. Herrje, es war schon spät. Sie brauchte den Jungen. In Gilberts Haus, vorn in der Nähstube, kannte sie sich aus, aber sie war nie im Garten gewesen.
“Warte!”
Anna wandte sich kurz ab, kramte einen der vielen Hohlpfennige hervor und zeigte ihn Jan.
„Wenn du mir den Weg zeigst, bekommst du die Münze“, versprach sie ihm.
Jan sah nach rechts und links. Dann schnappte er sich den Pfennig, machte auf der Ferse kehrt und rannte los.
„Komm“, rief er, „ich zeig’s dir!“
Anna hatte Mühe, mit dem Schusterjungen Schritt zu halten. Endlich kam die Hecke in Sicht, die Gilberts Garten von den anderen Grundstücken trennte.
„Leise jetzt!“ befahl Jan.
Er führte sie zu einer Stelle in der dornigen Hecke, die hinter dem mächtigen Stamm einer Eiche verborgen lag, und sie zwängte sich hinter ihm durch den Spalt. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, und beinahe wäre sie stecken geblieben, aber schließlich hatte sie es geschafft. Jan stand vor dem abgeernteten Birnbaum, den Pfennig fest umklammert.
„Du hast nicht gefragt, ob es noch Birnen gibt. Selbst schuld! Den Pfennig bekommst du nicht zurück.“
Flink wie ein Wiesel schob er sich zurück durch den Spalt. Anna verbiss sich das Lachen - was dachte sich der Junge? Für den Pfennig bekam man ganze Körbe voller Birnen. Leise schlich sie zur Hausecke und presste sich an die grob behauenen Steine. Die Fenster waren genauso verhängt wie in ihrer Hütte. Anna reckte den Hals und lauschte. Lediglich ein schwaches Murmeln drang an ihr Ohr. Sie huschte weiter die Mauer entlang, bis sie das nächste Fenster erreichte. Hier waren die Stimmen deutlicher zu vernehmen, trotzdem verstand sie kaum ein Wort. Ein stummer Stoßseufzer entrang sich ihrer Kehle. An diesem Platz schützten die Büsche sie noch vor neugierigen Blicken, doch weiter vorn konnte man sie sicher vom Weg aus sehen. Die Sonne stand inzwischen hoch über ihr. Ihr blieb keine Wahl, sie musste das Wagnis eingehen - oder sie würde die Anhörung verpassen.
Und so drückte sie sich mit klopfendem Herzen an das Mauerwerk und schlich weiter, bis sie die richtige Stelle erreicht hatte. Von hier aus waren die Stimmen so klar zu verstehen, als stünde sie selbst im Raum.
„Es gilt festzustellen, ob hier entweder ein Fall für die peinliche Gerichtsbarkeit vorliegt, ein geringeres Vergehen zu bestrafen ist oder ob der Baumeister unschuldig ist. Zuerst wollen wir festhalten, ob du Feinde hast.“
Gilberts Stimme, dachte Anna. Sie warf einen Seitenblick auf den Weg , aber kein Mensch war zu sehen.
„Ja. Der Arbeiter Pawe ist ganz sicher nicht im Guten von der Baustelle gegangen, er wird mir nur Übles nachsagen.“
Anna schluckte - die Stimme ihres Vaters.
„Gut.“ Gilbert klang verärgert. „Dann ist Pawe als Zeuge nicht zugelassen. Pawe, du kannst gehen.“
Eine Weile war nichts zu hören, und Anna spähte wachsam umher. Eine Tür knallte zu. Pawe stapfte vorbei, keine zehn Fuß entfernt. Sie hielt den Atem an und bewegte sich nicht, doch Pawe sah sich nicht um. Schimpfend und armefuchtelnd zog er davon.
„Noch jemand?“ , erklang die Stimme von Gilbert.
„Es gab da noch eine Sache …“ Wulf brach ab, und einen Moment lang herrschte Stille.
„Hm. Für einen Baumeister und guten Christenmenschen hast du recht viele Feinde. Das kann sich irgendwann zum Schlechten auswirken“, antwortete Gilbert.
Anna stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt sich ein Ohr zu, um mit dem anderen besser hören zu können. Doch kein Laut drang zu ihr heraus.
„Es reicht nicht, wenn du den Kopf schüttelst, du musst schon reden“, wies Gilbert Wulf zurecht.
„Nein, sonst wohl keine Feinde“, murmelte der Baumeister.
„Gut. Schreiber, halt fest: Pawe ist nicht zugelassen, als Zeugen werden
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