Die Gewandschneiderin (German Edition)
der Ratsherr klopfte und klopfte.
„Das Pult war feucht“, fuhr er schließlich fort, „und der Grasstreifen zwischen Pult und Kirche hatte sich zurückgezogen. Wer sonst kann dem Gras gebieten als ein Hexer? Wer sonst hat dem Feuer die Nahrung entzogen, um dein Pult zu schützen? Fehlt dir ohne das Pult der Mut zu predigen?“
Die letzten Worte klangen verhalten, fast lauernd. Anna ahnte, wie der Vater sich fühlen musste, sie spürte ihre eigene Wut und war sicher, dass es Wulf genauso erging. Doch er beherrschte sich. Abermals war sie stolz auf ihn.
„Ich weiß nicht, warum das Pult nicht verbrannt ist. Das Gras zieht sich im Herbst zurück, vielleicht hat der Brandstifter es auch geschnitten, um mich zu belasten. Und ich habe nicht gepredigt - das würde ich mir nie anmaßen.“
„Nehmen wir einmal an, du sagst die Wahrheit. Dann haben wir hier immer noch zwei Vorwürfe, die dich stark belasten. Jemand hat beobachtet, wie du bei Vollmond mit Kröten getanzt und sie geküsst hast“, brachte Gilbert vor.
Anna hörte ein seltsames Geräusch. Dann begriff sie, dass Wulf lachte. Erleichtert atmete sie auf. Andere fielen in das Lachen ein.
„Das ist doch lächerlich“, sagte der Baumeister.
„Das ist es nicht!“, brüllte Gilbert. „Antworte!“
Wulf klang wieder ernst. „Ich habe noch nie in meinem Leben eine Kröte geküsst. Frag meine Freunde, auch die engsten Vertrauten werden es dir bestätigen“, erwiderte er dem Ratsherrn.
„Das habe ich getan. Der Vorwurf stammt nicht von mir, sondern von einem deiner … Vertrauten. Ich rufe Arnulf als Zeugen.“
Der Himmel und die Bäume ringsum drehten sich. Anna stützte sich an der Wand ab, um nicht zu fallen.
Durch die Fensteröffnung drang das Schlurfen schwerer Holzschuhe heraus.
„Arnulf, haben wir dein Wort, dass du die Wahrheit sagst?“ Gilberts Stimme schwebte seltsam schwerelos durch Annas Kopf. Irgendetwas stimmte nicht. Anna suchte in ihren Gedanken und fand es nicht. Inzwischen konnte sie kaum noch stehen. Verzweifelt setzte sie sich auf den Boden. Endlich ließ das Dröhnen in den Ohren nach. Wann hatte sie zuletzt gegessen? Die Zwetschgen! Sie hatte noch die Zwetschgen in der Kitteltasche. Sie schnippte den Kern aus einer zerdrückten Frucht und stopfte sie sich in den Mund. Erst als sie auch die anderen beiden hinuntergeschlungen hatte, fiel ihr siedend heiß ein, was sie gerade so erschrocken hatte. Arnulf war letztens so wirr gewesen, und Gilbert rief ihn als Zeugen der Ankläger? Was, wenn er nach dem Unglück mit Liswetha verrückt geworden war?
„Liswetha ist tot? O Gott, Arnulf, dass tut mir so leid für dich …“, murmelte Wulf.
„Leid tut es dir?“, schrie Arnulf. „Du hast sie auf dem Gewissen! Alles ist nur deine Schuld, nur deine …“
„Es reicht!“, brüllte Gilbert.
„Arnulf, was tust du? Ich weiß, du bist verwirrt wegen Liswetha und dem Kind. Aber du kannst doch nicht allen Ernstes glauben, dass ich …“, flehte Wulf.
„Ruhe jetzt!“ Der Ratsherr war schon heiser, doch die Schärfe in seiner Stimme war nicht zu überhören.
„Ich stelle die Fragen. Baumeister, du hast nur zu antworten, sonst führe ich die Verhandlung ohne dich weiter.“ Mit milderer Stimme wandte er sich an Arnulf.
„Tut mir leid, die Sache mit deinem Weib. Aber es ist wichtig, dass du meine Fragen beantwortest. Versuch dich zu erinnern. Hast du den Baumeister mit der Linken arbeiten sehen?“
„Ja, oft.“ Arnulfs Stimme klang wieder ruhig. Unnatürlich ruhig, wie es Anna schien. Mit der gleichen Stimme hatte der Freund des Vaters sie aufgefordert, ihn zum Kirchgang zu begleiten, und dabei über sie hinweg in den Himmel gestarrt, als sähe er dort etwas.
„Hast du je selbst gesehen, dass der Baumeister eine Kröte geküsst oder mit einem solchen Tier getanzt hat?“
„Geküsst, getanzt, geküsst, getanzt …“, beteuerte Arnulf. Es klang ganz ernsthaft, und Anna überlief ein Schauder.
Es gab keinen Zweifel, Arnulf war wahnsinnig geworden.
„Warum denkst du, dass Baumeister Wille schuld am Tod deiner armen Liswetha ist?“
„Er hat sie mit Wasser beschüttet, dann ist ihr Kindswasser abgegangen - viel zu früh. Er hat sie zuletzt angefasst, dann war das Kind tot. Als es ihr wieder besser ging und ihre Wangen rosig wurden, hat er gesagt, sie ist noch in Gefahr. Woher sonst wollte er das wissen, wenn er kein Hexer ist? Und dann war sie tot.“
Die letzten Sätze klangen nicht einmal unvernünftig, das musste Anna
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