Die Gewandschneiderin (German Edition)
im Einzelnen Karl der Geselle, Arnulf und die Hebamme berufen. Die anderen anwesenden Arbeiter antworten bei Fragen mit Handzeichen.“
Gilbert legte eine kleine Pause ein. Etwas schepperte tönern, vielleicht ein Krug gegen einen Becher. Dann fuhr er fort.
„Wulf Wille, dir wird zur Last gelegt, die Baustelle in Brand gesetzt zu haben, auf dass die Kirche vollständig zerstört werde. Karl der Zimmerergeselle hat deine Tochter mit brandgefährlichen Leinöllappen gesehen, obwohl sie nicht auf der Baustelle arbeitet. Alle, die das Mädchen mit den Lappen beobachtet haben, heben die Hand.“ Stille. „Gut, das wäre bewiesen.“
Gilbert räusperte sich. „Was hast du zu entgegnen, Baumeister?“
Wulf antwortete mit fester Stimme. „Ich zünde doch keinen Rohbau an, an dem ich so viele Monate lang gearbeitet habe! Im Gegenteil, ich sitze abends noch oft über den Plänen und überlege, wie die Kirche sicherer zu machen ist.“
„Das kann ich bestätigen!“, rief jemand. War es Johanns Stimme?
„Ruhe! Dazwischenreden ist nicht erlaubt, auch wenn du ein Ordensbruder bist. Falls du die Anhörung noch einmal störst, setze ich dich hinaus, Johann von den Benediktinern. Weiter, Baumeister, oder war das alles?“, fragte Gilbert.
„Nein, das war nicht alles. Meine Tochter sollte auf der Baustelle arbeiten. Sie hatte also die Erlaubnis, sich dort aufzuhalten und zu helfen.“
Schwere Schritte waren zu hören.
„Deine Tochter hat doch eine Lehrstelle bei meinem Weib ! Wieso sollte sie dann auf der Baustelle arbeiten?“, fragte Gilbert.
„Weil …“ Wulf räusperte sich. „Weil es nicht ganz die richtige Arbeit für sie war. Wir haben Bescheid gegeben, und Anna sollte bis Lichtmess auf der Baustelle helfen, um sich dann nach etwas anderem umzusehen“, erklärte Wulf.
„Du willst uns also erzählen, dass deine Tochter auf Wunsch ihres fürsorglichen Vaters eine gute Lehrstelle aufgibt, zudem mitten im Winter auf einer Baustelle Arbeit bekommt“ – einige lachten –, „um dann im Frühjahr nach etwas anderem zu suchen?“, höhnte Gilbert.
„Ja. So war es.“
Anna wurden die Zehen taub , und erst da bemerkte sie, dass sie immer noch auf Zehenspitzen stand, um besser lauschen zu können.
„Nun gut. Nehmen wir einmal an, deine Behauptung stimmt. Sie hat also aus eigenem Antrieb und um zu helfen, die Lappen eingesammelt?“, forschte Gilbert.
„Nein, Pawe gab ihr den Auftrag“, antwortete Wulf.
„Pawe - ich verstehe. Den können wir aber leider nicht fragen, weil er nicht zugelassen ist“, höhnte Gilbert. „Außerdem wird dir vorgeworfen, vor den Leuten gepredigt zu haben, obwohl du kein Geistlicher bist. Du hast am Pult gestanden und Gott angerufen. Und du sollst ihnen gesagt haben, es sei Zeit, die Baustelle zu verlassen. Stimmt das?“
Annas Herz raste. Sie erinnerte sich nur zu gut an die Worte, die ihr Vater nach Pawes unverschämtem Auftritt den anderen hingeworfen hatte, um sie von höheren Forderungen abzubringen.
„Das hatte einen anderen Grund. Ich bin ein treuer Christ und würde mir niemals anmaßen, predigen zu wollen. Fragt Bruder Johann. Ich baue Kirchen, um der Kirche zu dienen. Pawe wollte mehr Lohn, obwohl ich das Übliche gezahlt hatte. Er wollte die anderen aufhetzen. Ich muss schließlich dafür sorgen, dass der Bau nicht zu teuer wird, denn jeder in der Gemeinde hat hart für das Baugeld gearbeitet. Soll ich da den Arbeitern zahlen, was sie gern hätten? Ich muss doch die Kosten niedrig halten“, erklärte Wulf.
Zustimmendes Gemurmel breitete sich aus. Anna atmete tief durch. Das hatte er gut erklärt - man musste ihm einfach glauben.
„Kommen wir zum letzten und schwerwiegendsten Punkt.“ Gilbert machte eine wirksame Pause, und Annas Gedanken flogen. Was genau warfen sie ihm denn nur vor?
„Du bist der Hexerei angeklagt“, zischte Gilbert.
Sofort setzte ein Tumult ein, wie Anna ihn noch nicht gehört hatte. Lautes Klopfen durchbrach den Lärm, gefolgt von entrüsteten Rufen.
„Ruhe! Ruhe!“, brüllte Gilbert. „Hört euch die einzelnen Beweise an, bevor ihr diese Anhörung zu einem Jahrmarkt macht. Zeugen haben gesehen, dass du zum Arbeiten die Linke benutzt …“
„Ich bin mit links geschickter, aber deshalb bin ich doch kein Hexer!“, rief Wulf empört.
„Wie erklärst du es dann, dass von der ganzen Kirche nur dein geschätztes Pult übrig geblieben ist?“, donnerte Gilbert.
Das Stimmengewirr aus den Reihen der Zuschauer schwoll wieder an,
Weitere Kostenlose Bücher