Die Gewandschneiderin (German Edition)
nur Gras, aufgetürmte Steine und Efeu, so weit das Auge blickte. Welch ein Durcheinander! Die Friedhöfe, die sie bisher besucht hatte, waren in Reihen angelegt gewesen. Einige Grabsteine mussten uralt sein; nur die Oberkanten ragten noch aus der Wiese hervor, und selbst jemand, der des Lesens mächtig war, hätte die meisten Inschriften nicht mehr entziffern können. Anna schauderte. Um ein Haar hätte sie die Friedhofsruhe gestört, nur um den Weg abzukürzen. War das ein schlechtes Zeichen?
“Warum ist der Friedhof so unordentlich?” , fragte sie.
Alimah zog die Schultern hoch. “Der heilige Sand ist ein Judenfriedhof, die sehen alle so aus. Wenn wieder einer stirbt, legen sie ihn obenauf und schütten ihn zu, dann wird ein Berg daraus.”
Hinter dem Friedhof ging es noch eine kleine Stiege hinauf, dann stand Anna mitten auf dem Markt. Die Händler hatten Tücher gespannt, um ihre Waren vor der Hitze zu schützen. Hier und da erhob sich ein Sonnenschutz in fröhlicher Farbe aus der Masse der wohlfeilen Stoffe, der anzeigte, dass an diesem Stand teurere Waren verkauft wurden. Die bunten Dächer zogen Annas Blick nach oben. Der Dom! Obwohl er grau und wuchtig war, verliehen ihm die zwei Seitentürme und die runden Buntglasfenster in den beiden Haupttürmen etwas Verspieltes. Alimah würdigte das Gotteshaus keines Blickes, sondern eilte zielstrebig von einem Verkaufstisch zum anderen, feilschte, lamentierte und zeterte, bis sie den erschöpften Händlern endlich einen niedrigen Preis abgerungen hatte.
T rotz der frühen Stunde war es schon heiß. Anna sah sich immer wieder um. Falls Heinz in Worms war, ließ er sich das Angebot an Stoffen auf diesem riesigen Markt sicher nicht entgehen. Doch die Körbe füllten sich, ohne dass Anna einem Mann begegnete, der Heinz auch nur im Entferntesten ähnelte. Schließlich schien Alimah zufrieden mit ihren Schätzen.
“Was wolltest du kaufen?”
“Borten.” Anna zog mit Daumen und Zeigefi ngern einen gedachten Streifen unter der Brust entlang. “Als Schmuck für meine beiden Kleider.”
“Ah, du suchst einen Mann, ja?” Alimah nickte eifrig. “Das ist gut. Du bist schon zu alt, um unverheiratet zu sein.”
Anna mochte darauf nicht antworten. Beim nächstbesten Stoffhändler stellte sie die schweren Körbe ab, um die Hände frei zu haben.
So viele bunte Borten ! Anna wandte sich um und entdeckte hinter sich mindestens drei weitere Stände, die Stoffe und Tand feilboten. Die Borten lagen teils auf dem Tisch, teils waren sie ausgehängt. So viele Farben! Noch nie hatte sie einen so großen Markt besucht.
Eine Hutfilzerin sprach sie über ihre Ware hinweg an. “Du, Mädchen, wie wär’s mit einem Hut oder einer Haube?”
Anna schüttelte den Kopf.
“Brauchst du auch Stoff?” Sie hatte die Marktfrau nicht gesehen. Blass und mager, den Bauch geschwollen, betrachtete sie erst forschend, dann enttäuscht Annas Kleid. Es passte gut und war nicht abgetragen, das merkte die Frau wohl auch. “Beeil dich, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit für nichts als eine Borte oder ein Band”, nörgelte sie.
Alimah schoss vor wie ein Teufel. “Wenn du nicht freundlicher bist, geben wir unser Geld anderswo aus!”, brüllte sie, spuckte auf den Boden und stieß Anna in die Seite. “Gehen wir!”
Unter den Blicken der Umstehenden hob Anna die Körbe auf und folgte der Köchin. Am nächsten Stand war sie froh, nicht gleich bei der ersten Händlerin gekauft zu haben. Die Zahlen auf den Holzbrettern waren hier deutlich niedriger, und die Qualität schien genauso gut zu sein. Voller Freude suchte sie eine passende grüne Borte für das rote Kleid aus. Die Sorte mit den Silberfäden hätte wunderbar zum Saum an Hals und Ärmeln gepasst, aber dann hätten ihre Münzen nur für das rote Kleid gereicht. Anna wollte auch das blaue Kleid verzieren, also nahm sie zwei Ellen von einer schlichten, aber breiten grünen und zwei Ellen von einer dunkelblauen Borte. Die restlichen Münzen gab sie für ein blaues Band aus. Glücklich versenkte sie ihre Einkäufe in den Tiefen des Korbes. Sie wollte sich gerade umwenden, da vernahm sie eine wohlbekannte Stimme.
“Bestes Tuch aus Flandern, eine Kostbarkeit !”
Eiskalte Schauer liefen Anna über den Rücken.
“Komm !”, zischte sie Alimah zu und rannte los, so schnell es die schweren Körbe zuließen. Vorbei an den grellen Ständen, weiter zum Judenfriedhof und weiter, immer weiter.
Erst am Tor hol te die Köchin sie ein.
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