Die Gewandschneiderin (German Edition)
Annas Widerstand. Sie berichtete der alten Frau alle Einzelheiten ihrer schrecklichen Erlebnisse, und es tat ihr gut, die rissigen Hände auf den schmalen Schultern zu spüren, bis alles gesagt war.
Anna wusch gerade die Holzschüsseln aus, als es heftig gegen die Tür donnerte. Rahardta legte einen Finger auf die Lippen und deutete in die Stallecke. Rasch schlüpfte Anna zu den Ziegen ins warme Dunkel. Die Alte humpelte zum Eingang und öffnete die knarrende Tür nur einen Spaltbreit, sodass das Mädchen in seiner Ecke verborgen blieb.
„Ach, Ihr seid’s, Bruder Johann! Was soll der Lärm?“, fragte Rahardta erleichtert.
Johann betrat den Raum und spähte flüchtig umher, ohne. Anna zu bemerken. „Gut, dass die Kleine nicht hier ist. Rahardta, es sieht nicht gut aus. Die wollen den Baumeister einem Gottesurteil unterziehen …“
Rahardta unterbrach ihn . „Johann, Anna ist …“
Doch Johann ließ sich nicht aufhalten. „Hör zu, es ist wichtig! Ich habe über den Käfig nachgelesen - nicht einer hat ihn überlebt. Vielleicht taugt er einfach nicht als Gottesurteil, wie soll Gott“ - er deutete nach oben – „bei all seiner Güte die vermaledeite Tür aufbekommen? Ich fürchte, die ersäufen ihn wie eine Katze im Sack …“
Da schluchzte Anna laut auf. Johann wandte sich um und riss die Augen auf.
„Das wollte ich dir sagen, du Holzkopf - das Mädchen ist doch da. Wir hatten nur Angst, die Häscher könnten sie holen, darum hat sie sich versteckt“, fauchte die Alte.
Sie humpelte zu Annas Versteck, zog sie aus der Ecke hervor und drückte sie auf einen Schemel nieder.
„Sieh nur, was du angerichtet hast mit deinen Schauergeschichten!“, schimpfte sie weiter.
„Ich … in den Büchern … Also … wer weiß, ob Gott nicht doch einen Weg findet …“, stammelte Johann und verließ beschämt und ohne Abschiedsgruß die Hütte.
Auch wenn sie sich redlich bemühte, konnte die alte Frau Anna dieses Mal nicht trösten.
Kalter weißer Mondschein fiel durch das Fenstertuch in die Hütte herein. Rahardta schnarchte, und an Schlaf war kaum zu denken. Leise erhob sich Anna von ihrem Lager am Boden. Der Geruch des erloschenen Feuers hing noch in der Luft, doch die Wärme war längst verflogen. Vor Kälte zitternd suchte sie ihre Sachen zusammen. Johanns Worte verfolgten sie unaufhörlich. Was, wenn ihr Vater tatsächlich starb? Natürlich hätte er nicht gewollt, dass seine Tochter sich in Gefahr begab, aber sie musste wenigstens versuchen, ihn zu sehen. Als ihre gesamte Habe zu einem kleinen und einem großen Bündel gerollt war, schlich sie zum Ausgang und öffnete behutsam die Tür.
Vor der rechten der drei Bauarbeiterhütten stand ein Mann; sein Gesicht lag im Schatten, und Anna erkannte ihn nicht. So hilfreich der helle Mondschein auf dem Weg hierher gewesen war, so sehr hätte sie sich jetzt eine barmherzige Wolke vor dem Nachtgestirn gewünscht. Anna huschte geduckt über die freie Fläche, um hinter die linke Hütte zu gelangen. Lauschend blieb sie stehen. Stille. Auf Zehenspitzen umrundete sie das Gebäude und erreichte schließlich die äußerste Hütte. Vor dem Fenster war ein hölzernes Gitter angebracht, um das Werkzeuglager vor Dieben zu schützen.
„Vater!“, flüsterte Anna und erschrak vor ihrer eigenen Stimme.
„Anna“, war die tadelnde Stimme des Vaters gleich darauf zu hören, „du solltest nicht herkommen!“
„Vater, ich musste dich sehen“, antwortete sie und klammerte sich an den hölzernen Gitterstäben fest.
Ein verhaltener Seufzer antwortete ihr. „Im Grunde bin ich froh, dass du hier bist“, murmelte der Baumeister. „Du weißt doch, was zu tun ist, falls mir etwas zustößt, nicht wahr?“
„Davon will ich nichts hören, Gott wird es richten“, gab Anna trotzig zurück.
„Kind, es ist aber wichtig!“ Erschrocken hielt der Baumeister inne. Hatte er zu laut gesprochen? Auch Anna horchte angestrengt - nichts.
„Sehr wichtig.“ Leiser, aber nicht weniger eindringlich sprach er weiter. „Such meine Schwester Evphemia auf. Johann weiß Bescheid, er wird dich hinführen.“
Anna schwieg. Sie wollte einfach nur warten, dann käme er schon nach Hause, und alles wäre wie immer.
„Anna!“
„Was ist?“
„Versprich es mir! Wenn mir etwas zustößt, gehst du zu meiner Schwester und bleibst da, bis du einen Mann findest, der für dich sorgt“, flehte Wulf.
„Ich soll also damit rechnen, dass du stirbst?“, fragte sie in verzweifeltem Trotz.
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