Die Gewandschneiderin (German Edition)
bewusstlos, so wie ich es gerade war“, fauchte sie.
„Ich kann noch immer einen Toten von einem Lebenden unterscheiden, auch aus der Entfernung. Er war zu lange unten, dass hält keiner aus“, verteidigte sich Johann.
„Trotzdem, ich will zurück und mich vergewissern.“ Sie nahm alle Kraft zusammen und zog sich hoch. Sie würde sich gleich erbrechen, und es drehte sich alles, aber sie saß. Sie musste nur noch vom Wagen hinunterspringen.
„Er hat erwähnt, dass du störrisch bist, aber so …“, seufzte Johann. „Notfalls soll ich dich mit Gewalt in Sicherheit bringen, hat er verlangt.“
„Das darfst du nicht! Ich werde unentwegt brüllen, dass du mich verschleppen willst. Wie willst du das erklären, wenn jemand kommt, hm?“
Anna rutschte zum Rand ihres Lagers.
„Ich mache dir einen Vorschlag.“ Johann hielt einen Packen hoch - dicht vor ihre Nase. Anna kannte ihn, sie hatte neben Wulf gesessen, als er den langen Brief und ein Päckchen fest in Leder eingewickelt hatte.
„Wir sind schon eine halbe Tagesreise von Jever entfernt. Zu Fuß schaffst du es heute nicht mehr zurück. Falls Gott ein Wunder geschehen lässt und er noch lebt, weiß der Baumeister schon, wo er dich suchen muss.“ Er wedelte mit dem Packen vor Annas Nase herum. „Du fährst erst einmal mit, ohne Geschrei, und dafür lese ich dir bei der nächsten Rast den Brief vor, den dein Vater dir geschrieben hat, einverstanden?“, fuhr der Mönch fort.
Anna linste sehnsüchtig nach dem Päckchen. Ein eigener Brief, nur für sie, von ihrem Vater. Obwohl Pergament so teuer war. Stand die Sonne wirklich schon so tief? Wie sollte sie ihm dann noch helfen? Entweder war er zurechtgekommen oder … Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Was mochte der Packen bloß enthalten?
„Das hier mache ich aber gleich auf! Wohin fahren wir?“, fragte sie und griff nach dem ledernen Behältnis.
„Nach Oldenburg, zu deiner Tante. Leg dich wieder hin.“
Johann trat beiseite, und das Licht flutete erneut über Annas Gesicht. Sie drehte sich vorsichtig auf die Seite, und eine neue Welle aufsteigender Übelkeit brach über sie herein. Keuchend wartete sie ab, bis ihr wieder wohler war, und zog dann an den Schnüren. Das Leder löste sich, und der Brief und das kleinere Päckchen fielen heraus. Anna rollte das Pergament auf, aber mit den Buchstaben konnte sie nichts anfangen. In dem kleinen Packen steckte allerdings etwas, das sie sofort erkannte: ein wunderschönes Stück Stoff. Blau, so sauber gewebt, dass es schimmerte, und ordentlich zusammengelegt. Sie breitete es aus. Gefaltet hatte es neu ausgesehen, aber nun erkannte sie die ausgefransten Ränder. Sie hob den feinen Stoff an die Nase und schnupperte. Und die Erinnerung kehrte mit einer Wucht zurück, dass sie zusammenzuckte.
Sie selbst als kleines Mädchen, festgeklammert an einem Rock aus blauem Stoff - diesem Stoff! Es war ein Stück vom Kleid ihrer Mutter. Bild um Bild erschien vor Annas innerem Auge. Ihr Vater, wie er am Rock der Mutter gezerrt hatte, um sie unter dem brennenden Balken hervorzuziehen. Das Geräusch des reißenden Stoffes. Das Krachen der einstürzenden Balken. Der Fetzen, den Wulf der kleinen Anna achtlos in die Hand gedrückt hatte.
Und dann die Stimme der Mutter. „Die Kleine! Schaff die Kleine hinaus!“
Grob hatte der Vater Anna gepackt, war hinausgestürmt und hatte sie auf die Wiese gebracht. Gleich darauf hatte er sich wieder dem Haus zugewandt, doch es war zu spät gewesen. Die Flammen waren so hoch gelodert, dass kein Durchkommen mehr gewesen war.
Anna vergrub das Gesicht in den Armen und weinte bitterlich. Selbst der Anblick des herbstlich gefärbten Waldes tröstete sie nicht, denn in der Sonne gleißten die gelben und roten Blätter wie Feuerzungen und schienen höhnisch nach ihr zu lecken.
Erst lange nachdem sie keine Tränen mehr hatte, hielt Johann den Rappen am Rand einer kleinen Lichtung an.
„Brrr! Halt, mein Guter!“
Der Mönch wuchtete seine massige Gestalt vom Bock und lehnte seinen Wanderstock an den Wagen.
„Komm, hilf mir mal.“
Anna wäre gern liegen geblieben, denn unter der Decke war es warm. Dennoch rutschte sie mit schmerzendem Kopf vorsichtig von der Ladefläche und sammelte Brennholz. Johann jammerte unaufhörlich, er sei nicht zum Holzsammeln geschaffen, sondern um Gott zu preisen. Und sie selbst zuckte beim Bücken ein ums andere Mal zusammen, wenn die Beule am Schädel von Neuem pochte. Schließlich hatten sie einen
Weitere Kostenlose Bücher