Die Gewandschneiderin (German Edition)
mit …“
Mitten im Satz brach er ab, und nun erschlaffte auch die andere Seite, und der Druck auf Annas Finger ließ nach. Die Augen des Mönches waren noch geöffnet, doch Anna ahnte, dass er sie von dort, wo er war, nicht mehr sehen konnte.
Johann war tot.
Ein aufgeregter Vogelschrei schreckte sie aus ihrer Starre. Hufgetrappel erklang. Anna sprang auf. Wie sollte sie das alles erklären? Der tote Mönch, sie mit der Beule und dem Silber? Was, wenn man ihr die wahre Geschichte nicht glaubte und in Jever nachfragen wollte? Nicht einmal an das Kloster konnte sie sich wenden, dort vermutete man Johann doch ganz woanders. Sie packte ihre Bündel und spähte suchend umher. Die Haselsträucher! Die Arme voll beladen, kämpfte sie sich durch das Gestrüpp, um gleich dahinter zu Boden zu sinken. Von hier aus war sie hoffentlich nicht mehr zu sehen. Keinen Augenblick zu früh, schon war lautes Rufen zu hören. Das Hufgetrappel wich dem Schnauben und Prusten der verhaltenen Rosse.
„Obacht, was ist das denn?“
„Ein Mönch, oder? Herrje, dem ist nicht mehr zu helfen.“
„Was fangen wir mit ihm an?“
„Schafft ihn auf den Wagen! Ich lenke, und du nimmst mein Pferd am Zügel. Es ist nicht mehr weit bis Oldenburg. Wir geben ihn im Kloster ab, die werden schon wissen, was zu tun ist.“
Anna war ratlos. Das Gras war nass, und da sie sich bei dem Versuch, durch die Büsche zu spähen, auf den Knien aufgerichtet hatte, zierten jetzt in Kniehöhe zwei klamme schwarze Flecken ihr graues Kleid.
Sollte sie zurückkehren, dorthin, wo sie ihren Vater zum letzten Mal gesehen hatte? Andererseits hatten sowohl ihr Vater als auch Johann darauf bestanden, dass sie Evphemia in Oldenburg aufsuchte. Eine eisige Windbö fegte ihr durch das Haar, und kalte Regentropfen stachen ihr gegen die Wangen.
Hier konnte sie jedenfalls nicht bleiben. Sie rückte den schweren Leibgurt zurecht, bückte sich nach den Bündeln, richtete sich auf und schimpfte leise vor sich hin. Dann zwängte sie sich durch das Gestrüpp auf die Lichtung hinaus. Erst langsam, dann immer schneller folgte sie der Straße in Richtung Oldenburg, voller Zweifel, ob sie sich auch zurechtfände.
Sie hatte sich umsonst gesorgt. Der Gestank der Lohe wehte ihr bereits entgegen, als die ersten Häuser aus dem Regen auftauchten.
Auf dem gesamten Weg war ihr nur ein einziges Fuhrwerk entgegengekommen, und der Fahrer war auf der nassen Straße mit seinem überfrachteten Wagen und den vor Anstrengung schäumenden Pferden beschäftigt gewesen. Anna war mit ihrem Vater nie in Oldenburg gewesen, denn die letzte Anstellung als Baumeister hatte Wulf im Bistum Bremen gehabt. Von dort aus waren sie lange an der Weser entlanggezogen. Irgendwann hatte Wulf nach links gedeutet und ihr erklärt, dass dort seine Schwester wohne. Aber die Zeit hatte gedrängt, und so hatten sie Annas Tante erst nach dem Bau der Kirche besuchen wollen.
Bei dem Gedanken an ihren Vater griff die alte Angst nach Annas Herz. Ging es ihm gut? Er konnte doch nicht wirklich tot sein. Gewiss befand er sich auf dem Weg zu Evphemia, um seine Tochter zu treffen. Anna schritt aus, bis sie die Lohgerberei erreicht hatte. Sie lag an einem Fluss, wie alle Gerbereien, die Anna bisher gesehen hatte. Das schnell fließende Wasser spülte die stinkenden Abfälle aus der Stadt hinaus. Das große Haus strahlte einen gewissen Wohlstand aus und war in gutem Zustand. Anna machte einen großen Bogen um die stinkenden Lohgruben, bis sie unter dem Sturmdach vor dem Eingang stand. Gerade wollte sie klopfen, da wurde die Tür von innen aufgerissen. Es war offensichtlich der Gerber selbst. Ausgezehrt und stinkend, die Hände bis zu den Hemdsärmeln rot und verhornt, starrte er sie unfreundlich an.
„Was gibt’s?“, knurrte er.
Da wurde Anna bewusst, dass sie nach der langen Wagenfahrt, dem Überfall und dem Marsch durch die Nässe sicher wie eine Vagabundin aussah.
„Ich will nicht betteln, ich möchte nur wissen, wo Evphemia ihr Haus hat. Ich bin ihre Nichte und komme zu Besuch“, sprudelte es aus ihr heraus.
Das Gesicht des Gerbers wurde ein wenig freundlicher. „Gleich das nächste Haus am Fluss, du läufst schon eine Ecke bis dorthin. Gut, dass es nicht zu dicht steht, denn meist haben wir Westwind, nicht wie heute.“ Er grinste. „Das ist nichts für empfindliche Nasen. Du erkennst das Haus an dem Fuhrwerk davor. Dein Onkel Maffrit ist unser Fahrer für die Rohhäute.“
„Danke.“
Rasch lief Anna am Rand
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