Die Gewandschneiderin (German Edition)
Dein Onkel Maffrit kommt bald nach Hause. Besser, du läufst ihm heute nicht mehr über den Weg.“
Evphemia ging hinaus und schloss die schmale Tür, das Talglicht nahm sie mit. Nun war es völlig dunkel in dem Abstellraum. Wie sollte sie ihre Sachen verstauen? Überhaupt gefiel es ihr in diesem Haus ganz und gar nicht. Aber sie hatte ein Versprechen gegeben, und das durfte sie nicht brechen. Wenn sie wenigstens ein Licht gehabt hätte! Was, wenn sie die Tür einfach ein wenig öffnete? Sie horchte und vernahm das widerliche Knarren der Außentür. Als sie keinen Laut mehr hörte, schob sie die Tür einen Spaltbreit auf. Ein warmer Schimmer fiel durch die Öffnung herein. Das war schon besser. Wo blieb bloß Marie nur so lange mit den Reisebündeln? Anna trat auf den Türspalt zu - und wurde mit Wucht eingeklemmt.
„Au!“ Sie rieb sich das linke Bein und den linken Arm.
„Verflixt, wer hat denn …“ Sie schob die Tür wieder auf und spähte um die Ecke.
Da stand Vors und starrte sie ungerührt an. „Oh, ich dachte, es wär Marie“, grinste er und verschwand pfeifend in der Stube.
Marie tappte durch den Flur. Mit der Linken tastete sie sich an der Wand entlang, mit dem rechten Arm zerrte sie Annas Habe hinter sich her. Anna sprang hinzu. „Warte, ich helfe dir.“ Erleichtert überließ ihr Marie die Bündel.
„Ich lauf nicht gern mit Sachen durch den Flur. Vors ist zu Hause, da ist es besser, eine Hand frei zu haben“, flüsterte die Blinde.
„Das kann ich mir denken.“
In der engen Kammer öffnete Anna eines der drei Bündel und wühlte darin herum. Marie schloss die Tür.
„Marie, die Tür – ich brauche Licht“, bat Anna.
„Oh, gut. Aber nur, bis er kommt, dann muss sie zu sein, verstehst du?“
Anna verstand zwar kein Wort, nickte aber gedankenverloren.
„Anna! Verstehst du?“ Erst jetzt fiel Anna ein, dass Marie sie nicht sehen konnte.
„Ja.“
Marie seufzte beruhigt. „Gut.“
Anna warf den ersten Beutel achtlos zu Boden und durchwühlte auch das zweite und dritte Behältnis. Der Packen mit dem ganzen Lehrgeld musste doch irgendwo sein!
„Was suchst du?“, fragte Marie.
„Da fehlt etwas!“
„Oh, hoffentlich war es kein Geld.“ Marie schnäuzte sich. „Sie hat vorhin ewig lange in deinen Sachen gekramt. Und wenn es Geld war, siehst du es nie wieder.“
Evphemia saß dicht am Feuer und streckte den Flammen die Hände entgegen. Anna erschauerte. Trotzdem ging sie auf die Tante zu, den Rücken aufgerichtet und den Kopf gerade - Evphemia sollte sehen, dass sie mit ihr nicht so umspringen konnte.
„Ich will nicht unhöflich sein, aber wo ist das Geld aus meinem Bündel?“, verlangte sie zu erfahren.
Evphemia zuckte zusammen. Hatte sie gedacht, Anna würde den Verlust nicht bemerken?
„Das habe ich … in Verwahrung genommen. Nicht, dass es noch wegkommt …“, stammelte die Tante.
„Das kannst du nicht tun. Es ist für meine Lehrherrin bestimmt. Ich soll mir wieder eine Stelle als Schneiderin suchen, falls … bis …“ Sie stockte.
Evphemias Gesicht leuchtete kurz auf - oder war es nur der Widerschein des Feuers? Sie erhob sich und legte eine knochige Hand auf Annas Schulter.
„Nun, dein Vater wird bald kommen, dann bespreche ich alles mit ihm. Einverstanden?“
„Ja“, stimmte Anna trotzig zu. „Er kommt bald und holt mich wieder ab.“
Schwere Schritte dröhnten auf der Hoftreppe, und die Tante wurde bleich.
„Verschwinde! In die Kammer mit dir!“ Anna öffnete den Mund. „Keine Widerrede!“, zischte Evphemia.
Sie drängte Anna durch den Flur, stieß sie in die Kammer und schloss die Tür mit heftigem Knall. Anna presste von innen das Ohr an die Tür.
„Maffrit, da bist du ja! Komm, ich gebe dir etwas zu essen.“
Eine tiefe Stimme polterte. „Hoffentlich nicht wieder so ein Fraß …“ Die Schritte entfernten sich in Richtung Wohnstube.
Anna fand keinen Schlaf. Wohin war sie hier nur geraten? Ob ihr Vater ahnte, wie sehr sie ihn vermisste?
Die allzu gleichmäßigen Atemzüge neben ihr verrieten, dass auch das kleine Mädchen noch nicht schlief.
„Du, Marie …“
„Was?“ Die Stimme klang hellwach.
„Warum binden sie dich an?“
„Sie mögen nicht, wenn ich herumlaufe.“
„Warum?“, fragte Anna.
„Ich denke, sie hassen mich einfach.“
Die Worte brachen Anna fast das Herz. Marie war so klein, wie kam sie auf solch furchtbare Gedanken?
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Wenn es wahr wäre, warum hast du dann einen
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