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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Niespor
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des Wassers entlang, bis sich das Haus der Tante vor ihr erhob. Eigentlich war es nur eine Hütte. Das Dach hatte gewiss schon bessere Tage erlebt. Hier und da fehlte ein Stück von den Wandbrettern, und Moos zog sich um den unteren Rand der Hütte wie ein Strumpf. Anna fühlte sich an Rahardtas Behausung erinnert, bevor Wulf sich ihrer angenommen hatte. Sie umrundete die Hütte und betrat den Hof.
    Zu r Linken lag das Wohngebäude, zur Rechten befand sich ein teilweise offener Unterstand mit abgeteilten Pferdeboxen, in dem das erwähnte Fuhrwerk stand. In der Mitte des kleinen Gevierts wuchs ein Hausbaum, ein Apfelbaum, wie Anna erfreut feststellte.
Doch was war das? Unterhalb des Baumes steckte ein Pflock in der Erde. Ein Seil führte zu einer kleinen Erhebung, die sie für eine Ziege gehalten hätte, wäre sie nicht zerlöchert gewesen. Wer band hier Wäschebündel an Seile und ließ sie dann im Regen liegen? Vielleicht war eine Trockenleine heruntergefallen?
„Mutter! Es ist jemand im Hof!“, rief das Bündel und erhob sich. So aufgerichtet, reichte es Anna etwa bis zum Bauch und hatte eindeutig ein Gesicht und Haare.
Vor Schreck sprang Anna zwei Schritte zurück, ihr Herz raste. Was sie für einen Wäschehaufen gehalten hatte, war ein Kind. Mit einer Leine umwunden und angepflockt, stand es im Regen und rief nach seiner Mutter.
„Marie, was soll das Geschrei?“
Die Frau, die aus der Tür trat, war groß. Der grobe Stoff ihrer schmutzigen Haube wirkte weiß gegen die dunklen Ringe unter den Augen. Die Nase stach aus dem mageren Gesicht hervor wie ein Vogelschnabel. Sie sieht dem Vater gar nicht ähnlich, dachte Anna. Aber wenn sie hier wohnt, ist sie wohl meine Tante.
„Eine Fremde“, sagte Marie gleichmütig.
„Was willst du? Wenn du zum Betteln kommst - wir haben selbst nicht genug.“ Evphemia stemmte die Arme in die knochigen Hüften.
Der Regen wurde immer stärker. Das Wasser sammelte sich in Annas Haaren und rann ihr den Nacken hinunter.
„Es ist nicht so, wie du denkst. Ich bin Anna Wille, die Tochter von Wulf. Ihm ist … er schickt mich her. Ich soll hier auf ihn warten.“
Die Frau starrte Anna unschlüssig an, dann nickte sie.
„Komm herein.“ Sie schnäuzte sich. „Und bring Marie mit, es wird dunkel.“
Anna trat auf das Kind am Pflock zu. Aus dieser Entfernung erkannte sie trotz der Dämmerung, dass es ein Mädchen war. Obwohl Maries helle Augen unverwandt auf sie gerichtet waren, wirkte der Blick seltsam ziellos. Das Mädchen war blind.
„Du musst den Strick abmachen, ich darf’s nicht“, sagte Marie.
    M it klammen Fingern versuchte Anna, das fest verzurrte Tau um den mageren Leib der Kleinen zu lösen.
„Wer hat dich hier bloß angebunden, und das bei diesem Regen?“, fragte Anna. Sie mühte sich redlich, aber der glitschige Knoten saß zu fest.
„Sieht sie her?“, fragte Marie.
„Wer?“, fragte Anna zurück.
„Evphemia - sieht sie her?“
    Anna blickte über die Schulter zurück. Die Fenster waren verhängt, der Hof schien leer.
„Nein.“
Flink knüpfte Marie mit ihren kleinen Fingern den Knoten auf und tastete nach Annas Rock. „Geh schon hinein, sie wartet bestimmt“, drängte sie.
Anna umklammerte ihre Bündel, atmete tief durch und erklomm die drei glitschigen Stufen, die blinde Base im Schlepptau. Als sie auszurutschen drohte, hielt Marie sie am Rock fest.
Die Tür war lediglich angelehnt, doch sie ließ sich nur mit Mühe öffnen und knarrte laut. Im Haus war es dunkel. Marie zog Anna weiter, den schmalen Gang entlang bis zum Wohnraum.
Der Raum war leidlich groß, das Podest zur Rechten schien auszureichen, um fünf oder sechs Erwachsenen und Kindern als Schlafplatz zu dienen. Eine Abtrennung für das Vieh gab es nicht; zur Linken stand ein stabiler Tisch, ähnlich jenem, den sie in Jever gehabt hatten, nur viel länger. Auf den grob gehauenen Bänken dahinter und davor hockten zahlreiche krakeelende Kinder. Einzig ein Kleinkind - den kurzen Haaren nach ein Junge - saß still da und schaute mit großen Augen umher. Auf dem Tisch lag ein Brotberg, daneben dampfte ein Kessel. Eines der Kinder, ein kräftiges Mädchen, schnappte sich ein Stück von dem Brot. Evphemia schlug ihr die Kelle so heftig auf die Hand, dass es klatschte.
„Das wird geteilt, Beatke!“
Das Mädchen fing an zu heulen, antwortete aber nicht. Anna stand suchend am Tisch. Nachdem Marie sich zu ihrem Sitz vorgetastet hatte, waren nur noch zwei Plätze frei. Ein Stuhl mit

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