Die Gewandschneiderin (German Edition)
hinunter entdeckte sie einen Brunnenplatz. Da erst spürte sie den quälenden Durst. Sie musste nicht lange anstehen, es war noch früh am Tag, und die Leute hatten zu Hause ihr Morgenmahl eingenommen. Anna stieß den Kübel über den Rand und hörte ihn unten ins Wasser platschen. Rasch bediente Anna die Winde und zog. Endlich konnte sie den vollen Eimer auf den Rand wuchten und schöpfte das kühle Nass mit beiden Händen. Das Wasser war klar, schmeckte gut, weder modrig noch salzig. Ein Kratzen am Schuh verriet ihr, dass auch Bär durstig war. Sie ließ den Hund aus ihren Händen trinken und trat dann beiseite, um Platz für den Nächsten zu machen. Sie setzte sich am Rand des Brunnenplatzes auf einen Baumstamm und nahm Bär auf den Schoß. Er stieß ihr mit der kleinen Nase gegen den Arm und winselte.
„Armer Kleiner, du musst ja umkommen vor Hunger“, seufzte sie.
Sie wollte schon aufstehen, da stockte ihr der Atem. Ein Fuhrwerk näherte sich, und das Pferd sah Maffrits Wallach zum Verwechseln ähnlich. Sie rieb sich die Augen - hatte sie zu lange nichts gegessen? Der Wagen kam immer näher - es gab keinen Zweifel. Es war Maffrit mit seinem Gefährt. Wenn er weiter in Richtung Oldenburg fuhr, musste er unmittelbar am Brunnenplatz vorbeikommen. Nach dem halben Tagesmarsch hatte sie sich weit genug von seinem Haus entfernt gewähnt - sie hatte sich getäuscht. Ihre Gedanken rasten. Was sollte sie tun? Konnte er sie zwingen, mit ihm zurückzukommen? Der Wagen war schon so nahe, dass Anna den Berg blutiger Felle auf der Ladefläche erkannte. Sie schloss die Augen. Sie wollte ihn nicht sehen, sie wollte nichts mehr sehen. Die Hände in den Schoß gepresst, wartete sie - doch es kam kein Rufen, und es legte sich auch keine grobe Hand auf ihre Schulter. Sie öffnete die Augen wieder. Maffrits Fuhrwerk war verschwunden. Er war einfach vorbeigefahren. Anna atmete tief durch. Gerade noch einmal davongekommen! Sie musste weg, viel weiter weg. Zu Fuß war sie zu langsam. Vielleicht konnte sie einen Fuhrmann überreden, sie eine gewisse Strecke mitzunehmen.
Inzwischen herrschte reges Treiben auf dem Weg. Ganze Ströme von Menschen schoben sich in Richtung Stadt. Aber auch die andere Seite der Straße war dicht bevölkert.
„Komm, Bär, wir fragen einfach, ob uns jemand mitnimmt.“
Der Hund jaulte.
„Ich habe auch Hunger, aber erst einmal müssen wir hier weg“, beschied sie den Welpen mit entschlossener Stimme.
Reisegefährten
Anna hatte nur Fuhrwerke anzuhalten versucht, auf denen auch Frauen saßen. Kaum eine der Angesprochenen hatte geantwortet, eine hatte sie sogar angeschnauzt, sie solle aus dem Weg gehen, sonst werde der Wagen sie überfahren. Niemand war bereit, sie mitzunehmen. Nur mit Mühe unterdrückte sie die aufsteigenden Tränen.
Die Füße taten ihr weh. Sie war immer weitergelaufen, um so schnell wie möglich von den verhassten Verwandten fortzukommen. Straßenstaub hatte sich in den verschwitzten Lederschuhen festgesetzt, und nun scheuerten die Fersen. Die Stadt war noch kaum zu sehen, Bär jammerte entsetzlich, und Annas hungriger Bauch gab böse Knurrlaute von sich.
Ein Wendeplatz kam in Sicht, mehrere Wagen lagerten am Rand. Ein Kind führte eine Ziege spazieren, die gierig an den Halmen rupfte. Müde ließ sich Anna abseits des Weges in das noch schüttere Frühlingsgras sinken. Den Hund konnte sie neben sich an einer Baumwurzel festbinden. Sie musste unbedingt etwas zu essen ergattern und eine Mitfahrgelegenheit finden. Unmöglich konnte sie sich hier unter den Rock greifen und eine Silbermünze hervorholen. Weit laufen mochte sie mit den wunden Fersen allerdings auch nicht mehr. Der Anblick des Mädchens mit der Ziege brachte sie auf einen Gedanken. Wie wäre es, wenn sie etwas tauschte? Mit flinken Fingern zupfte sie ein altes Hemd aus ihrem Bündel und riss es ohne Bedenken entzwei. Nadel und Faden hatte sie rasch zur Hand. Hurtig nähte sie drauflos. Sie wusste, wie das fertige Stück aussehen sollte, so machte sie es immer. Allerdings durfte sie auf offener Straße nicht mit der linken Hand nähen und reihte mit der Rechten mühsam Stich an Stich. Schließlich hielt sie ihr Werk hoch in die Luft und betrachtete es. Ein Umriss wie von einem dicken Kind prangte auf dem Stoff, der doppellagig aufeinandergenäht war. Ein Bein war nicht ganz zugenäht, der Faden hing lose herunter.
Das kleine Mädchen stand schon eine Weile mit weit offenen Augen vor Anna und schaute gespannt zu.
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