Die Gewandschneiderin (German Edition)
Hände des Tuchhändlers legten weitere Ballen vor Anna aus. Mit dem Nessel war es einfach, auch die Leinenstoffe hatte sie schnell sortiert. Einige waren zu ungleichmäßig und gäben ein schlechtes Nähbild ab. Andere wiesen eine schlechte Bindung auf, aber die meisten waren von so ordentlicher Qualität, dass Anna sie Theodora vorlegte.
Schließlich löste der Händler die großflächige Schutzhülle von einigen gesonderten Ballen. Mit einer Sanftheit, die Anna für ihn einnahm, wickelte er je eine Elle von den fest gewickelten Rollen ab. Sie griff zu - und stutzte. Das Tuch war hauchdünn und weich, aber glatt und fest im Griff. Der Händler bemerkte ihr Zögern und trat näher.
"Ein feiner Seidenstoff. Der Faden wird unmittelbar vom Kokon der Raupe abgewickelt und nicht auf der Spindel gedreht. Dieser Stoff ist eine Bestellung von Schwester Ragnhild." Er zwinkerte Anna zu, bevor er weitersprach. "Du warst bisher so treffsicher in deinem Urteil, dass ich ihn dir nicht vorenthalten wollte."
Anna wusste nicht, ob sie sich über das Zwinkern empören oder dankbar für die Lektion sein sollte. Statt zu antworten, befühlte sie den nächsten Stoff. Ein Wollgewebe, aber Anna spürte noch etwas anderes: weiche, glatte Fasern, kühler als Wolle - auch diesem Stoff war Seide beigemischt.
Theodora war so in die Auswahl der Farben vertieft, dass sie nicht aufblickte, als der Tuchhändler zu sprechen anhob.
"Seidenstoffe dürfen fein sein. Je fester und glatter sie sind, um so weniger verziehen sie sich beim Nähen. Sie dehnen sich ." Er zog das Gewebe behutsam in die Breite. "Und sie sind mit feiner Nadel zu nähen, um den Stoff nicht zu verderben." Er nahm zwei Stoffe und hielt sie Anna hin.
"Der hier ist hochwertig, gleichmäßig gewebt und gefärbt. Dieser“ - er nahm den anderen Stoff und senkte die Stimme - "ist wohl nicht das Rechte für höchste Ansprüche."
"Danke", murmelte Anna und hob den Blick.
"Es war mir ein Vergnügen. Heinz ist mein Name - wie darf ich dich ansprechen?"
"Mein Name ist Anna."
"Nun, Anna, dann wähl das halbe Dutzend Seidenstoffe aus, das für die Nähstube bestellt war."
Anna befühlte die Tuche, deren Farben einen so wundervollen Gegensatz zu dem Einschlagnessel bildeten. Das war etwas anderes als das ständige Grau und Schwarz in Orttrauts Stube! Sie prüfte und wendete, bis das halbe Dutzend beisammen war, und bei einem Stoff war sie unsicher. Sie linste zu Heinz hinüber, und der, obschon ein gewiefter Händler, schüttelte kaum merklich den Kopf.
Anna griff nach einem anderen Ballen, und erst als Heinz nickte, legte sie den teuren Stoff behutsam auf den Stapel, der angekauft werden sollte.
Angebote
"Welch reizender Mensch - und so farbenfrohe Stoffe!"
Die Sonne schien warm, und Bär sprang munter neben Anna her. Theodora war bester Stimmung. Die ehrwürdige Mutter hatte die erworbenen Stoffe geprüft und war über die gute Wahl sichtlich erfreut gewesen. Anna gönnte Theodora dieses Lob - es würde ihren Anspruch auf einen Platz im Kloster festigen.
”Der Heinz, meine ich. Höflich und Frauen gegenüber voller Hochachtung.”
Anna erröte te. Auch ihr war aufgefallen, dass der Tuchhändler unter verschiedensten Vorwänden immer wieder die behagliche Nähstube des Klosters aufgesucht hatte. Das eine Mal wollte er nach den Farben sehen, um Garne zu beschaffen, das andere Mal bot er Knebel und Schließen an.
“Ich habe mit Männern nichts im Sinn, Theodora “, seufzte Anna. „Das weißt du doch.”
“ Aber ein Mädchen hat es mit einem guten Mann als Beschützer leichter, als sich allein durchschlagen zu müssen.”
Doch Anna wollte nichts davon hören . Ein Mann war ein Mann, ob nun Tuchhändler oder Ratsherr. Mochte er noch so nett sein.
“Heinz, darf ich dich etwas fragen?”
Anna hatte sich endlich ein Herz gefasst und legte den blauen Stoff auf den Tisch. Ihr Kleid war bald fertig, und dann musste sie weiterziehen. Nachdem Ragnhild den letzten Absatz des Briefes so stockend vorgetragen hatte, sollte ihn unbedingt noch jemand anders vorlesen. Theodora mochte sie nicht fragen, vielleicht hatte sie als Ordensfrau die gleichen Gründe, ihr Teile des Inhaltes zu verheimlichen. Heinz kam da gerade recht. In den letzten Tagen war er auch ohne Anlass in der Nähstube erschienen. Ragnhild ließ die Besuche offensichtlich gern zu, und die Vermutung lag nahe, dass er sie milde gestimmt hatte - bei ihrer Vorliebe für teure Stoffe sicher ein Leichtes für
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