Die Gewandschneiderin (German Edition)
Nonne hinüber und zog den eigenen schäbigen Stoff zu sich heran, während Theodora sich erschrocken umwandte und die Hände mit der Mitra auf den roten Stoff legte.
Keinen Augenblick zu früh, denn schon wurde die Tür aufgestoßen. Anna zuckte zusammen. Auf der Schwelle stand Ragnhild.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Anna, wie Theodora zitterte und sich mit der Nadel stach. Als sie sie in das Filzkissen stecken wollte, fiel die Nadel herunter und rollte über den Tisch.
„Nun, wie kommst du mit dem Gewand des Abtes voran, Schwester?“, fragte Ragnhild.
„G…gut, ich … Es ist …“ Theodora starrte bestürzt auf Mitra und Stoff, als könne sie dort die richtigen Worte finden.
Würde Theodora standhaft bleiben oder alles beichten?, fragte sich Anna mit angehaltenem Atem.
„Zeig her, ich bilde mir selbst ein Urteil.“
Ragnhild umrundete den großen Tisch und stellte sich neben Theodora.
„Warum nähst und schneidest du abwechselnd? Was für ein Durcheinander!“
Theodora schwieg und lief rot an. Anna mischte sich ein.
„Ihr haben die Hände vom Schneiden geschmerzt.“
Ragnhild legte den Kopf schief und musterte Anna, als sähe sie sie zum ersten Mal.
„Mädchen, bist du immer so vorlaut? Hat deine Familie dir keinen Anstand beigebracht?“
Anna zwang sich, ruhig zu bleiben, und senkte den Kopf. Sie wollte Ragnhild auf keinen Fall gegen sich aufbringen. Doch die Ordensfrau war noch nicht fertig.
„Was ist mit deinem Gewand? Ich sehe noch nicht einen Schnitt …“ Sie langte über den breiten Tisch, fasste den Stoff zwischen zwei Fingern - und stutzte.
„Nun, das scheint mir ein recht ordentlicher Stoff zu sein. Verständlich, dass du zögerst, ihn zu verderben.“
Unter dem Tisch presste Anna die Arme an den Leib. Das glatte Pergament mit den Worten ihres Vaters im linken Ärmel beruhigte sie. Wulf hätte sicher gewollt, dass sie sich mäßigte. Doch was, wenn ihre Augen die Empörung widerspiegelten, die sie empfand? Besser, sie hielt den Kopf gesenkt.
„Theodora, die Schnitte hier an der Schulter sind ausgesprochen elegant. Welche Schere hast du dafür verwendet?“
Noch während Ragnhild fragte, glitt ihr Blick schon suchend über den Tisch. Anna durchfuhr ein eisiger Schreck. Die Scheren! Sie lagen noch auf ihrer Seite! Ragnhild würde misstrauisch werden - und Theodora würde gewiss nicht schwindeln, wenn sie gefragt wurde. Anna streckte den Rücken. Sie musste sich einmischen, sonst war alles umsonst gewesen.
„Schwester Ragnhild, ich habe durch Schwester Theodora von Eurer außerordentlichen Belesenheit und Bildung gehört.“
Ragnhild fuhr herum und musterte das Mädchen misstrauisch, doch nur für einen Augenblick. Dann entspannten sich ihre Züge.
„Ja, Gott war so gütig, mir einiges an Muße zu schenken, um im Gebet und bei den Schriften zu verweilen.“
„Könntet Ihr mir den letzten Brief meines verstorbenen Vaters vorlesen?“ Anna zog das Pergament aus dem Ärmel. “Ich kann nicht lesen.“
Ragnhild nahm das Schreiben und brach das Siegel. Sie hielt es nahe ans Gesicht.
„Hm. Es ist zu dunkel hier.“
Dann trat sie zum Kamin und hielt das Blatt schräg. Anna nutzte den Moment, um hinter Ragnhilds Rücken leise die Scheren aufzunehmen und an Theodoras Arbeitsplatz zu legen. Da hörte sie schon den Wortlaut des Briefes.
„ Meine kleine Anna,
wenn Du diese Zeilen liest, bin ich von Dir gegangen, und Johann passt auf Dich auf . Ich hoffe, dass unser Silbervermögen …“
Ragnhild stockte, wandte sich um und durchbohrte Anna mit Blicken. Die schlug die Augen nieder und hob die Schultern.
Theodora mischte sich ein. „Es wurde ihr gestohlen, als …“
„Je nun.“ Ragnhild fuhr fort. „ … Dir erlaubt, Dich gut zu verheiraten. Eines muss ich Dir noch sagen …“
Ragnhild hörte auf zu lesen, aber im flackernden Schein des Feuers schienen sich ihre Augen weiter flink über das Pergament zu bewegen.
„Was steht noch da?“, drängte Anna. Ragnhild räusperte sich und las weiter.
„Ich wünschte, ich könnte bei Dir sein, um Dich zu behüten.
Gott sei mit Dir. Immer Dein Vater
Wulf
Ragnhild faltete den Brief und reichte ihn zurück. Anna war verwirrt. Um diesen kurzen Abschnitt durchzulesen, hatte die Nonne so lange gebraucht? Da wurde sie von Theodora in die Seite gestoßen.
„Ähm … danke, Schwester Ragnhild, das war sehr freundlich.“
„Nichts zu danken, mein liebes Kind, wenn du noch etwas brauchst, bitte mich gern darum.“
Zum
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