Die Gewandschneiderin (German Edition)
ihn.
Mann hin oder her, Anna hatte sich inzwischen an seine unaufdringliche Gegenwart gewöhnt und zuckte nicht einmal zusammen, wenn er zufällig ihren Arm berührte.
“Was immer du willst” , antwortete er.
“ Liest du mir diesen Brief vor?” Sie zog ihn aus dem Ärmel und reichte ihn weiter. “Mein verstorbenen Vater schrieb ihn mir.”
Wortlos faltete Heinz das Pergament auseinander. Die ersten Zeilen unterschieden sich nicht von den Worten, die die Nonne ihr vorgetragen hatte, aber dann stutzte Anna. Waren das wirklich Ragnhilds Worte gewesen?
“Eines muss ich D ir noch sagen: Solltest Du einen ehrbaren Mann finden und er an Deiner Abstammung zweifeln, zögere nicht, ihm mitzuteilen, dass Du die Tochter eines angesehenen Kirchenbauers und einer geborenen von Münster bist. Deine Mutter und ich haben uns von Herzen geliebt, darum ist sie mit mir fortgegangen. Sie wurde aber nicht von ihrer Familie verstoßen. Ich wünschte, ich könnte bei Dir sein, um Dich zu behüten.
Gott sei mit Dir. Immer Dein Vater
Wulf“
Anna war sich ganz sicher: Das hatte Ragnhild nicht vorgelesen.
“Anna, das ist ja wunderbar, du bist eine geborene von Münster! Warum hast du mir das nicht erzählt?” Heinz strahlte sie an, doch Anna konnte seine Freude nicht teilen. Sie wusste weder, wer die von Münsters waren, noch warum die Nonne sie angelogen hatte.
“Ich wusste es selbst nicht” , raunte sie.
“Das ändert alles, Anna, einfach alles” , frohlockte Heinz.
Doch Anna war nur wütend. Ragnhild hatte sie mit Absicht belogen, aber als zweitwichtigster Frau in diesem Kloster konnte sie ihr kaum Vorhaltungen machen. Bis ihr ein Gedanke kam: Gott sah alles, er hatte sicher auch Ragnhilds Lüge gesehen. Gott würde am Ende abrechnen.
“Oh, Anna, es ist ganz wunderbar geworden! Dreh dich doch einmal im Kreis …” Anna stand vor Theodora und raffte die Röcke ihres neuen Kleides. Seit der Schnitt für die Robe des Abtes fertig geworden war, hatte sie nur noch an ihrem Gewand gearbeitet - und es passte wirklich ausgezeichnet. Doch ihr Glücksgefühl mischte sich mit dem Kummer, bald von hier fort zu müssen. Zwei, vielleicht drei Tage konnte sie den Abschied vielleicht noch hinauszögern, aber dann musste sie Ragnhild mitteilen, dass sie das Gewand fertiggestellt hatte. Das Kloster war ohnehin mehr als gastfreundlich gewesen. Ob das mit ihrer Herkunft zu tun hatte? Sie hatte niemanden im Kloster auf den Brief angesprochen und auch Heinz gebeten, sein Wissen für sich zu behalten. Sollte der Ordensdrache Ragnhild ruhig denken, sie wisse nichts davon. Anna strich mit beiden Händen über den weichen Stoff. Was würde wohl Heinz sagen, wenn …
Es klopfte, und gleich darauf streckte Hethel den Kopf zur Tür herein. “Anna möchte auf der Stelle zur ehrwürdigen Mutter kommen.” Sie verdrehte die Augen und kicherte. “Du hast doch nichts ausgefressen, oder?”
Sie fühlte sich in dem neuen Kleid wie eine Fürstin, doch ihre Schritte wurde immer schwerer, je näher sie der Kammertür der Mutter Oberin kam. Musste sie vielleicht schon an diesem Tag gehen? Sie schluckte, bevor sie zaghaft gegen das dunkle Holz pochte.
“Ja, bitte?”
Anna riss sich zusammen und hob den Öffner.
“Ah, Anna, da bist du ja. Nimm Platz. Du hast das Kleid also fertig genäht. Es ist schön geworden.”
Die ehrwürdige Mutter saß an einem fein geschnitzten Schreib pult und schob ihr einen Becher zu.
“Most?”
“Ja, danke”, murmelte Anna. Mit zitternden Fingern nippte sie an dem süßen Getränk. Gleich würde die Vorsteherin ihr sagen, sie möge das Kloster unverzüglich verlassen. Aber sie würde nicht betteln, sie würde ihren Weg schon finden. Vor Aufregung entgingen ihr die ersten Worte der Oberin.
“… aus diesem Grund haben wir deine Verwandten ausfindig gemacht. Sie sind bereit, dir den Einstand zu zahlen. Allerdings soll ich dir auch mitteilen“ - sie zögerte -, “dass du nicht mehr zu erwarten hast. Es hat also keinen Sinn, dort vorstellig zu werden.”
Anna summte der Kopf. Hatte sie richtig gehört? Die Verwandten würden zahlen, und sie konnte bei den Nonnen bleiben? Freude stieg in ihr auf. Das war …
“Natürlich müsstest du dich als Novizin von diesem Kleid … trennen. Aber nach der Profess dürftest du das Ordensgewand tragen. Schwester Ragnhild hat schon viele Novizinnen auf die Profess vorbereitet. Das alles ist noch nicht mit dem Vaterabt abgesprochen, aber nachdem die Bezahlung geregelt
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