Die Gewandschneiderin (German Edition)
kalte Kost, und der Tuchhändler ließ sich nicht lumpen. Sowohl Anna als auch die beiden Näherinnen bekamen reichlich zu essen. Satt und zufrieden schaukelte Anna den Nachmittag über der neuen Welt entgegen, in der plötzlich wieder alles möglich war.
Als Anna die Augen aufschlug, ging gerade die Sonne auf. Lina und Traute, die beiden Näherinnen, lagen rechts und links neben ihr und spendeten wohlige Wärme. Doch lange hielt es Anna nicht auf der Schlafstatt. Das Fuhrwerk war am Tag zuvor gut vorangekommen. Unzählige Eindrücke waren unterwegs auf sie eingestürmt. Nur von der Stadt Münster, wo sie vor den Toren gerastet hatten, hatte sie in der Dunkelheit nicht viel gesehen. Wie gern hätte sie die Heimat ihrer Mutter näher kennengelernt! Anna seufzte.
“Guten Morgen, was beschw ert dein Herz, dass du so ein betrübtes Gesicht machst? Bereust du, das Kloster verlassen zu haben?” Heinz war neben sie getreten.
Anna lächelte. “Nein, ganz und gar nicht. Ich wäre nur so gern durch die Gassen gegangen, die einst die Heimat meiner Mutter waren.”
Heinz verzog das Gesicht . Ärgerten ihn ihre Worte?
“Aber ich weiß , wir müssen weiter. Gleich bin ich so weit”, beeilte sie sich hinzufügen.
“Nein, du hast recht. Die Mutter so früh zu verlieren, ist ein furchtbarer Verlust. Ich wei ß nicht, was ich ohne meine Mutter Martha täte. Seit Vaters Tod leitet sie den Tuchhandel mit solchem Geschick, dass sich die Erträge mehr als verdoppelt haben. Eine bewundernswerte Frau.”
Anna atmete auf. Hatte sie sich noch heimlich Sorgen gemacht, weil Bär den Tuchhändler nicht mochte, war sie jetzt beruhigt. Ein Mann, der so über seine Mutter sprach, konnte keiner Frau ein Leid antun. Bär war einfach nur eifersüchtig.
“ Und wir haben noch Zeit. Lass uns rasch das Morgenmahl einnehmen, dann fahren wir kreuz und quer durch Münster.”
Anna klopfte das Herz bis zum Hals. Er machte einen Umweg, nur damit sie etwas von der Stadt sah!
“Danke, das vergesse ich dir nie …” Glücklich kehrte sie zum Nachtlager zurück und weckte die faulen Weiber.
Der Tag war wunderbar gewesen. Sie waren durch die Stadt gefahren, und Heinz hatte am Markt angehalten, war mit den Reisegefährtinnen an den Ständen vorbeigeschlendert und hatte für alle Pasteten ausgegeben. Mit geheimnisvoller Miene hatte er an einem Stand eine spitze Stofftüte erstanden, die er weder Anna noch den beiden Näherinnen hatte zeigen wollen. Stattdessen hatte er auf eine riesige Baustelle gedeutet.
“Seit vier Sommern bauen die Handwerker nun schon an dem Dom. Wenn er einmal fertig ist, wird er alle Gotteshäuser dieser Welt in den Schatten stellen!”, hatte er begeistert ausgerufen. Auch wenn erst die Grundmauern zu sehen gewesen waren, hatte sich Anna die vollendete Kirche vor ihrem inneren Auge vorstellen können und war von deren Größe überwältigt gewesen. Schon ihr Vater hatte für die Ausführung seiner Planungen Jahre gebraucht, und seine Baustellen waren klein gewesen im Vergleich zu dieser Werkstätte.
“Wie lange wird man wohl daran bauen?”, hatte sie ergriffen geflüstert.
Heinz hatte ihre freie Hand genommen, und sie hatte es geschehen lassen.
“Ein Leben lang, Anna.” Er hatte ihr so tief in die Augen geblickt, dass ihr ganz unwohl geworden war. So unauffällig wie möglich hatte sie die Finger aus seiner Hand gelöst.
Inzwischen saß sie wieder auf dem rumpelnden Wagenbock und schalt sich eine Närrin. Theodora hatte Heinz eine gute Partie genannt, und ihr Vater hätte gegen einen Tuchhändler wohl auch nichts einzuwenden gehabt. Nur sie selbst musste mit ihrem Eigensinn wieder alles verderben.
Doch Heinz schien nicht besonders verärgert zu sein. Er wusste viele Schnurren zu erzählen und wies seine Mitfahrerinnen immer wieder auf Besonderheiten der Landschaft hin. Die Näherinnen sangen nicht mehr, sondern lauschten ihm gebannt. Als es dämmerte, hielt er den Wagen an.
“Zeit, das Nachtlager aufzuschlagen”, erklärte er.
Alle reckten und streckten sich, und Anna beobachtete, wie Heinz auf Linas prallen Busen starrte. Sie war die jüngere und mit den kessen Grübchen auch die hübschere der beiden Näherinnen. Das Mädchen war sich seiner Vorzüge wohl bewusst, fuhr sich mit einer aufreizenden Bewegung durch das lange Haar und lächelte ihren Dienstherrn an. Diese Dirne! Sah sie nicht, dass er und Anna …
Ja - was eigentlich? Anna stieß mit der Fußspitze einen Kiesel so heftig beiseite,
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