Die Gewandschneiderin (German Edition)
sprang auf und folgte der Magd in die dunkle Höhle des Flurs. Ganz am Ende hielt Wiffi inne und stieß eine Tür auf. Das musste die Küche sein. Die Dünste, die dem Raum entströmten, waren alles andere als widerlich, wie Anna erleichtert feststellte. Hätte das Essen so geschmeckt, wie es im Flur roch, wäre sie wohl hungernd im Schatten der Kirche besser aufgehoben gewesen. Doch die Unordnung war unbeschreiblich. Töpfe und Näpfe in großer Zahl türmten sich auf Borden, ein Wassereimer stand in einer Pfütze, und Berge von Feuerholz stapelten sich in allen verfügbaren Winkeln. Tücher, Rüben, angetrocknete Schüsseln mit dicker Milch, volle Ascheneimer und ein angeschnittener Schinken drängten sich auf dem Tisch vor der Feuerstelle, die so hell flackerte, dass Anna zurückwich und um ein Haar seitlich über einen Schemel gefallen wäre.
"Der einzige warme Ort im Haus. Immer löscht er die anderen Feuer . Zu warm ist´s ihm, pah! Selbst mitten im Winter", zeterte Wiffi und blinzelte misstrauisch zu Anna hoch, bevor sie fortfuhr. "Mach dir keine Hoffnung, in der Küche wirst du nicht oft sein, schließlich bist du zum Arbeiten hier und nicht dazu, am warmen Herd zu faulenzen ..."
Wiffi packte Anna am Ärmel und zog sie aus der Küche in den Flur. Im Vorbeigehen schnitt sich die Magd noch einen Streifen Schinken herunter und schob ihn zwischen die zahnlosen Kiefer. Anna lief das Wasser im Mund zusammen. Das Brot und der Apfel hatten nicht vorgehalten, aber solange sie nichts gearbeitet hatte, würde sie nicht nach Beköstigung fragen.
Im Flur war es wirklich deutlich küh ler, auch wenn der Winter draußen endgültig vorbei war. Die Alte deutete auf eine Treppe, die ins bodenlose Dunkel zu führen schien. Irrte Anna sich oder war der Geruch dort stärker?
"Da gehst du nicht hinunter, auf keinen Fall. Sonst schmeißt der Meister dich hochkant hinaus. Verstanden?"
Natürlich hatte sie verstanden. Anna hatte nicht im Mindesten das Bedürfnis, noch dichter an die Quelle des Gestank es zu geraten. Sie nickte, doch Wiffi sah das nicht mehr, denn sie quälte sich schon die Stufen zum zweiten Stock hinauf. Anna überholte sie auf dem Treppenabsatz und blieb, oben angekommen, geduldig stehen. Wiffi quetschte sich in dem engen Flur an ihr vorbei und wälzte sich auf eine Tür zu. Ächzend hob sie den schweren Riegel aus der Halterung und öffnete. Eine Stiege kam zum Vorschein, und ohne ein weiteres Wort keuchte Wiffi wackelnd und humpelnd die engen Stufen hinauf. Eiskalte Luft schlug ihnen entgegen. Anna zögerte.
"Eil dich! Ich habe Besseres zu tun, als dir die Gesellenstuben zu zeigen", keifte Wiffi.
Anna besann sich, raffte den Rock und erklomm die Treppe. Der obere Flur wirkte nicht so gediegen wie die Hauptdiele. Zwei schmale geschlossene Türen, dicht an dicht, endeten bedrohlich nahe an der obersten Stufe. Wer da nicht achtgab, für den konnte der Abstieg lebensgefährlich werden. Rohe Balken und Spinnweben gaben sich mit Staub und Moder ein Stelldichein. Anna schüttelte sich. Wie lange war hier nicht mehr geputzt worden?
Wiffi kam ganz nahe, stieß eine der beiden Türen auf und blies Anna ihren säuerlichen Atem ins Gesicht. Die Kammer war groß genug für ein Bett, einen Schemel und eine Waschschüssel auf einem Ständer. Sogar ein Korb und eine Truhe für Habseligkeiten fanden noch Platz. Als Geselle hat man es schon zu etwas gebracht, dachte Anna neidisch. Wiffi ließ sie nicht eintreten, sondern zog die Tür wieder zu.
"Die andere sieht genauso aus. Hier steigst du niemals hoch, verstanden?"
Drohend blitzte sie Anna an. Was wollte sie hören? Dachte sie wirklich, die neue Näherin würde von sich aus ...?
Wiffi warte te immer noch auf eine Antwort.
" Nein, hier steige ich niemals hoch, verstanden."
"Gut."
Wiffi tastete sich die Stiege wieder hinunter, und Anna folgte ihr kopfschüttelnd. Die Alte musste verrückt sein, auf solche Gedanken zu kommen ...
Zurück im zweiten Stock , wartete Wiffi nicht ab, ob Anna ihr folgte. In schneller Folge riss sie drei Türen auf und knallte sie wieder zu, nachdem Anna einen flüchtigen Blick in die Räume erhascht hatte.
"Mein e Kammer. Für dich verboten. Die Schlafkammer von Meister Spierl. Für dich verboten. Die Schreibstube von Meister Spierl. Für dich verboten." Sie riss eine niedrige Tür auf, die in einen dunklen Verschlag führte. "Dein Lager."
Wiffi wollte schon weitereilen, doch Anna hielt sie zurück.
"Warte! Bitte ..." Sie zog die Tür
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