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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Niespor
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fruchten. Dietrich senkte den Kopf und widmete sich seiner Arbeit. Anna seufzte erleichtert auf. Meister Spierl zog einen Schemel unter dem Zuschneidetisch hervor und schob ihn an die breite Fensterbank. Dann schleifte er einen Korb voller Nähstücke in die Ecke und stellte einen leeren Korb daneben.
    „Es ist ganz einfach. Was zu nähen ist, legen wir da hinein.“ Er wies mit der Rute auf den rechten Korb. „Und was du fertig hast, schichtest du da hinein.“
    Anna nickte. Sie würde keinen Tisch haben, aber die Fensterbank, an die der Meister einen Schemel gerückt hatte, war breit und befand sich in angenehmer Höhe. Außerdem konnte sie zur Erholung gelegentlich aus dem Fenster blicken. Spierl schob ihr einen großen Kasten mit Garnrollen und einen Filzball mit Nadeln hin.
    „Nimm die passende Garnfarbe zum Stoff. Wenn du es anders machen sollst, dann sage ich es dir. Und wenn du ein Stück genäht hast, legst du die Rolle in den Kasten.“
    Anna nickte abermals und griff nach dem ersten Stück aus dem Korb. Bald legte sich ein arbeitsamer Schleier, gewebt aus Sonne und Ruhe, über die vier. Die warmen Strahlen krochen wohlig über Annas Gesicht und ihre Schultern, nur Dietrichs tastende Blicke nagten an ihrem Rücken wie eine frostige Nacht am Rücken derer, die sich am Feuer wärmen.
    Wie lange hatte sie schon nicht mehr genäht? Bis auf die wenigen zaghaften Stiche an Heinz’ Umhang wohl seit der Abreise aus dem Kloster nicht mehr. Ihre Finger fühlten sich steif an, und dass sie mit der rechten Hand nähen musste, machte die Sache noch schlimmer. Die Stiche waren ungleichmäßig - böswillig betrachtet waren einige sogar regelrecht schief. Anna nahm die Nadel für einen Augenblick in die Linke und schüttelte die andere aus. Seit der Meister die Nähstube verlassen hatte, um Kunden zu beraten, war Anna der Gedanke an Dietrichs lüsterne Blicke noch unangenehmer. Der Berg Hemden und Hauben schien auch nicht kleiner zu werden. Sie seufzte. Einerseits wünschte sie sich, dass Meister Spierl zurückkäme, um alle zum Nachtmahl zu rufen. Andererseits war das jämmerliche Häufchen Wäsche, das sie bisher fertiggestellt hatte, eine Schande. Was, wenn er sie wieder des Hauses verwies? Dietrichs Blicke konnte sie zur Not verkraften, den Hinauswurf kaum.
    Wie ein Lidschlag war die restliche Arbeitszeit vergangen. Vielleicht hatte sie den dritten Teil de s Korbinhaltes geschafft, vielleicht auch weniger. Spierl starrte in den Korb und wiegte den Kopf. Dann nahm er ein Stück hoch und betrachtete es prüfend. Gott sei Dank war es eines mit geraden Nähten.
    "Hm. Die Naht sieht anders aus als am Kleid."
    "Ich wei ß. Morgen arbeite ich besser. Und schneller." Sie sah ihn flehend an - er konnte, er durfte sie nicht fortschicken.
    Spierl äugte noch einmal in den Korb, hieb sich mit der Weidenrute sachte einige Male auf die flache Hand und nickte, als habe er eine Entscheidung getroffen.
    "Gut. Aber morgen schaffst du einen halben Korb mit geraden Stichen. Sonst kannst du anderswo Laken nähen."
    Dietrich kicherte. Spierl fuhr herum und hieb ihm die Rute über den Arm.
    "Was ist daran so lustig? Lachst du noch, wenn der Kaiser dir den Kopf abschlägt, weil er unzufrieden ist mit unserer Arbeit? Genug für heute, alle zum Nachtmahl!"
    Jan stand schon, auch Anna war sofort aufgesprungen, um Meister Spierl nicht noch mehr zu verärgern. Nur Dietrich erhob sich quälend langsam und zahlte seinen stillen Widerstand mit zusätzlichen Striemen auf dem Rücken.
     
    Anna blies sich eine Strähne aus den Augen. Im Halbdunkel der geöffneten Tür war es schwierig gewesen, den Boden frei zu räumen, aber sie hatte es geschafft. Strohsäcke gab es hier nicht, stattdessen hatte Wiffi fluchend eine schwere, mit Wolle gefütterte Matte her beigeschleppt. Anna musste sie an den Seiten ein wenig übereinanderschlagen, damit sie zwischen die vollen Regale passte. Das Ergebnis war eine warme, behagliche Mulde. Zwei dicke Decken hatte sie bekommen, und da der Meister ihr nicht - wie von Wiffi angedroht - das Brot zur Suppe gestrichen hatte, war sie auch satt. Sie zog die Tür zu und legte den Riegel vor. Gähnend und mit schmerzenden Armen lag sie im Dunkel. Welch ein Tag! Sie streckte sich und stieß mit den Händen gegen die Stoffreste auf den vollen Borden. Langsam glitten ihre Finger an den Rändern entlang. Wolle. Leinen. Wieder Wolle. Nessel, eine besonders schwere Ware. Anna lächelte - ein besseres Zuhause hätte sie sich nicht

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