Die Gewürzhändlerin
begann sich zu entspannen. Martins Nähe wirkte so fremd, und dennoch fühlte sie sich in seinem Arm seltsam geborgen. Obwohl sie wusste, dass es nicht recht war, was sie hier taten, wollte sie in diesem Moment nirgendwo anders sein als hier bei ihm. Sie lauschte seinem gleichmäßigen Atem und merkte, wie ihre Glieder schwer wurden. Sie schloss die Augen und spürte bereits den Schlaf herannahen, als sie seine Stimme dicht an ihrem Ohr vernahm.
«Ich will dich, Luzia», raunte er. «Also überleg dir genau, was du tust.»
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19. Kapitel
S chweigend starrte Luzia auf die nebeneinanderliegenden Gräber ihrer Familie. Der stilisierte Baum, das Hausnamenszeichen, welches in das Kreuz über dem Grab ihrer Eltern geritzt worden war, hatte sich grünlich verfärbt. Moos hatte sich in die feinen Linien gesetzt. Am Kreuz ihrer Schwester baumelte noch immer die kleine Puppe, mit der Trinchen immer gespielt hatte, nun durch Wind und Wetter zu einem unförmigen, kaum mehr erkennbaren Knäuel aus Holz, Wolle und schwärzlich verfärbten Strohresten verwittert.
Luzia hatte Schmerz erwartet, spürte jedoch mehr ein tiefes Bedauern. Sie und Anton waren allein auf der Welt, daran ließ sich nichts mehr ändern. Die Erinnerung an ihren Traum, in dem ihre Eltern erschienen waren, tröstete sie ein wenig. Ganz gleich, ob die Anwesenheit des Kruzifixes tatsächlich eine Verbindung zu den Verstorbenen hatte herstellen können oder ob der Traum einzig ihrer Phantasie entsprungen war, das Wiedersehen, die vertrauten Gesichter und Stimmen, hatte ihr wieder Mut gemacht. Sie würde ihren Weg gehen – musste es tun, denn eine andere Möglichkeit blieb ihr nicht.
Hinter sich hörte sie Anton leise schniefen. Als sie sich umdrehte, sah sie gerade noch, wie er mit der Hand über seine Nase fuhr. Er sah erbärmlich aus. Seine Augen waren verquollen, seine Gesichtsfarbe eine Mischung aus geisterhafter Blässe und einem ungesunden Grün. Luzias Mitleid hielt sich indes in Grenzen. Dass ihr Bruder an dem Saufgelage der Knechte auf Burg Kempenich teilgenommen hatte, war allein seine Entscheidung gewesen. Welch denkwürdige Nacht ihr sein Rausch beschert hatte, darüber wollte sie eigentlich lieber noch nicht nachdenken. Kaum hatte sie jedoch den ersten Gedanken daran zugelassen, strömten weitere nach und lenkten sie von der Erinnerung an ihre Familie ab.
Martin hatte sein Versprechen wahr gemacht und sie am frühen Morgen, noch vor Sonnenaufgang, geweckt und ein weiteres Mal massiert. Dies, zusammen mit der Wärme, die sein Körper ihr die gesamte Nacht über gespendet hatte, war tatsächlich so hilfreich gewesen, dass sie sich heute einigermaßen aufrecht halten und sogar reiten konnte.
Gedankt hatte sie ihm dafür bisher noch nicht. Ihr fehlten die rechten Worte, vor allem da sie sich noch zu genau an die leidenschaftlichen Küsse, an seine Hände auf ihrer Haut erinnerte. Die Gefühle, die sie dabei empfunden hatte, erschreckten sie. Sie konnte sich einfach nicht erklären, was in sie gefahren war. War dies vielleicht jene Wollust, von der die Priester sprachen, mit der der Teufel die Menschen zu unrechtem Handeln verführen wollte? Noch jetzt spürte Luzia eine Gänsehaut auf Armen und Rücken, wenn sie nur daran dachte, wie Martin sie berührt hatte. Bei der Erinnerung an seine Lippen, die sich begehrlich um ihre Brustwarze geschlossen hatten, musste Luzia hart schlucken.
Sie war schon einmal von einem Mann berührt worden, hatte ihm, ohne zu zögern, ihre Jungfräulichkeit geschenkt. Doch Roland war sanft, beinahe zurückhaltend gewesen. Damals hatte er sie zärtlich geküsst und gestreichelt und ihr alle Liebe gegeben, die er für sie empfand. Er hatte Gefühle in ihr geweckt, die sie nicht ängstigten, die sie begriff und gerne erwiderte. Die Hitze und die Leidenschaft – jenes ungezügelte Begehren, das Martin in ihr ausgelöst hatte – waren damit nicht zu vergleichen. Ganz bestimmt waren hier höllische Mächte am Werke. Wollte der Gottseibeiuns sie prüfen?
Und warum hatte Martin sie überhaupt geküsst? Er hatte es vor einiger Zeit schon einmal getan, obgleich er wusste, dass es weder rechtens war noch zu einem Ziel führen konnte. Er würde sich über kurz oder lang mit einer der vielen Kaufmannstöchter in Koblenz verheiraten. Therese vermutlich, denn das würde ihn endlich zum alleinigen Besitzer der
Ludwina
machen. Luzia wusste, wie wichtig ihm das war. Was also führte er im Schilde? Seine
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