Die Giftköchin
schlich lautlos in den Wald. Vom Hof drang das begeisterte Geschrei der Männer herüber, die mit gutem Appetit das über dem Feuer schaukelnde Ferkel zerlegten und dazu das Bier tranken, das Linnea ihnen gebracht hatte. Linnea blickte noch einmal zu ihrem kleinen, roten Häuschen zurück. Ihr Blick war unendlich müde, aber voller u n versöhnlichem Haß.
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Linnea Ravaska wanderte über den schattigen Waldweg, die Katze trippelte hinter ihr her. Aus der Richtung des roten Häuschens hörte Linnea gedämpft das Gegröle der betrunkenen Männer, bis der vielstimmige Vogelgesang es barmherzig übertönte. Linnea schleppte ihre schwere Kleidertasche, hin und wieder ruhte sie sich im Schatten der Bäume aus. Nach einiger Zeit entledigte sie sich ihrer Sandalen, damit sie auf dem feuchten Pfad nicht naß würden, sie streichelte zerstreut ihre Katze und ging weiter, immer tiefer in den Wald hinein. Als sie aus ihrem Haus geflüchtet war, war sie völlig außer sich gewesen, aber jetzt wußte sie genau, was sie als näc h stes tun mußte.
Zuerst mußte sie sich anständiger anziehen. Die mo r gendliche Arbeit und vor allem das Abbrühen des Schweins hatten ihre Hauskleidung verunreinigt, in diesem Aufzug konnte sie sich nicht unter Menschen wagen. Und ihr Gesicht sah bestimmt ganz schrecklich aus nach der durchwachten Nacht und der ausgesta n denen Angst. Linnea suchte sich eine geeignete Stelle am Wegrand, öffnete ihre Tasche und holte ihre Schminkutensilien heraus. Zu ihrem Ärger stellte sie fest, daß sie nicht daran gedacht hatte, einen Spiegel einzustecken, als sie so überstürzt aufgebrochen war. Linnea besaß mehrere Spiegel, einer hing in der Stube an der Wand, ein zweiter in der Sauna, und ein dritter lag in der Kommodenschublade, der sogenannte Reis e spiegel, und den hatte sie in der Eile vergessen.
Sie packte die Utensilien wieder ein und setzte ihren Weg fort. Sie kannte diesen schönen Wald gut, und als sich der Weg gabelte, folgte sie mit ihrer Katze dem weniger ausgetretenen Pfad. Bald erreichte sie eine kleine Lichtung, die mit hohem Riedgras bewachsen war. Mitten auf der Lichtung sprudelte eine Quelle, die Fläche war fast ein Ar groß, das Wasser klar und her r lich kalt. Am Rande der Lichtung stand eine baufällige Heuscheune aus grauen Balken. Unsichtbar hoch am blauen Sommerhimmel konnte man einen Vogel hören.
Linnea Ravaska stellte ihre Tasche sorgfältig auf einer trockenen Bülte am Rand der Quelle ab, dann blickte sie sich prüfend um und kauerte sich in das hohe Gras, um sich auszuziehen. Sie entledigte sich ihrer schmutzigen Kleidungsstücke, stopfte sie in einen Plastikbeutel und legte diesen ganz unten in die Tasche. Dann vergewi s serte sie sich noch einmal, daß sie auf der Lichtung allein war, und glitt langsam in das kühle Wasser. Sie schwamm, ohne zu planschen, bis zur Mitte des Te i ches, ließ von der kalten Grundströmung ihre müden Füße und alle ihre Glieder umspülen, ihren alten, ve r härteten Witwenkörper, der dennoch bemerkenswert kraftvoll war. Nach einiger Zeit schwamm sie mit ruh i gen Zügen ans Ufer zurück, entnahm ihrer Tasche Seife und Shampoo und begann, sich sorgfältig in dem kl a ren, kalten Wasser zu waschen. Sie verteilte Shampoo im Haar, seifte sich von oben bis unten ein und spülte alles ab, indem sie langsam quer durch den Teich schwamm. Endlich stieg sie heraus, ließ das Wasser von sich abperlen und ihre Haut in der Sonne trocknen.
Linnea fühlte sich plötzlich genauso unruhig wie einst als junges Mädchen. War es nicht 1934 gewesen, in jenem Jahr, als Ester Toivonen zur Miß Europa gewählt wurde? Ja, so mußte es gewesen sein … Damals war ein sehr schöner Sommer, so wie es früher zu sein pflegte. Linnea war mit ihrer Mutter nach Viipuri in den Urlaub gefahren, sie hatten auch Terijoki aufgesucht und dort viele Male im Meer gebadet. Das Meer war so kalt gew e sen wie diese Quelle. Warum nur war das Meerwasser kälter als das der Seen? Darüber hatte Linnea oft nac h gedacht. Das Meer fror im Winter längst nicht so stark zu wie ein See, und doch war es kälter. Auch Quellen froren nicht zu.
In Terijoki hatte Linnea Lindholm zum ersten Mal Leutnant Rainer Ravaska getroffen. Rainer hatte schrecklich für alles Militärische geschwärmt, er war im Ort stationiert gewesen als Sekretär und Adjutant einer Inspektionskommission für den Bau der Befestigung s anlagen. Linnea erinnerte sich, wie Rainer ihr in sehr geheimnisvollem Ton Dinge
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