Die Giftmeisterin
vernünftigen Grund gab. Dieses Kind war mir von allen Töchtern und Söhnen des Königs als einziges ans Herz gewachsen. Jahre, bevor ich meine Nichte Gerlindis kennenlernte und zu mir holte, war Teodrada mein Augapfel geworden. Gerade weil sie ein unzugängliches Wesen hatte - das hatte sie von ihrer verstorbenen Mutter, Karls zweiter Königin, geerbt -, verlangte ich danach, zu ihr vorzudringen, und ich hielt etwas darauf, dass es allein mir gelang. Keiner am Hof, auÃer ihrem Vater, stand ihr so nah wie ich.
»Was tust du gerade?«, fragte ich.
»Ich kämme mein Haar - wobei ich mich frage, für wen.«
Ich bemerkte, dass sie Stiefel trug, noch dazu feuchte, und fragte mich, wieso. Aber bei Teodrada wunderte mich nichts. »Für deinen Vater. Er mag es, wenn seine Töchter hübsch sind.«
»Ich bin nicht hübsch. Und ich werde es auch nie sein.««
(Es tut mir leid, das zu sagen, aber diese Selbsteinschätzung traf zu. Prinzessin Teodrada hat zwar das Wesen ihrer
Mutter geerbt, nicht jedoch deren Schönheit. Sie ist unnatürlich schlank, geradezu knochig, und gröÃer als die meisten Männer. Ihr ruheloser Blick verunsichert jeden, der mit ihr spricht, ihre Bewegungen sind fahrig... Sie verstärkt den Eindruck, den sie macht, durch eine mal ablehnende und mal angriffslustige Stimme und durch das unentwegte Anspannen aller Gesichtsmuskeln, sodass ihre Miene wie aus einem Baumstumpf geschnitzt scheint.)
»Es obliegt jedem Menschen, das Beste aus sich herauszuholen«, sagte ich. »Wenn die Natur mit der rechten Hand eine Gabe verweigert, gibt sie mit der linken Hand eine andere.«
»Mir gibt sie gar nichts. Die Natur ist eine gemeine alte Frau, die ich liebend gerne verprügeln würde.«
Ich lachte und schaffte es für einen kurzen Augenblick, freundliche Gelöstheit auf Teodradas Antlitz zu zaubern. Ich glaube, was sie an mir vor allen anderen Dingen schätzte, war, dass sie durch mich das Gefühl bekam, gemocht zu werden. Da war jemand, eine Gräfin, die sich ohne Not mit ihr abgab, und diese Gräfin hatte sie , Teodrada, unter allen anderen Prinzessinnen am liebsten. Somit war ihre Zuneigung für mich lediglich eine eitle Spiegelung der meinen, und das hätte etwas Kränkendes für mich gehabt, wüsste ich nicht, dass die meisten Freundschaften zuvorderst darauf basieren, dass man von jemandem gemocht wird, und erst nachrangig darauf, dass man jemanden mag.
Ich unternahm einen letzten Versuch, Teodradas Stimmung zu heben. »Du bist die Tochter eines liebenden Königs. Du hast nette Geschwister, alles in allem, du hast Zofen, ein groÃes Gemach, Kleider, neuerdings ein Bad...«
»Da gehe ich nicht rein. Das Wasser ist giftig.«
»Inwiefern ist es giftig? Und wer behauptet das?«
»Ich behaupte es. Sie will mich loswerden und schüttet Gift in das Wasser.««
»Wer ist >sie »Die Sächsin. Wer denn sonst!«
»Gersvind? Warum sollte sie so etwas tun?«
»Du kannst Fragen stellen!«
Teodrada sah mich an, als sei ich diejenige, deren Kopf nicht richtig arbeitete. In Wahrheit bestand ihr gröÃter Mangel nicht in ihrem Aussehen oder der abweisenden Haltung, die sie anderen gegenüber einnahm, sondern in bisweilen bedenklichen Schüben von...
(Hier hat mir das Wort gefehlt. Ich habe eine Weile überlegt und mich für das Folgende entschieden: Wirklichkeitsverzerrungen.)
Schübe von Wirklichkeitsverzerrungen suchen Teodrada seit fünf Jahren heim.
Eine fünf Jahre alte Erinnerung: Ein Kind schreit um Hilfe. Teodrada am Rand des Wahnsinns.
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Königin Fastrada liegt im Sterben. Noch ist sie nicht tot. Die Fliegen jedoch bemächtigen sich ihrer bereits wie eines Leichnams.
AuÃer mir, die ich die Gemahlin des königlichen Konnetabels bin, des Befehlshabers der Reiterei, sind noch die Pfalzgräfinnen von Nijmwegen und Soissons anwesend, ferner zwei Hofdamen und die zehn- und achtjährigen Prinzessinnen Teodrada und Hiltrud. Zwei Nonnen beten vor einer Reliquie, die sie mitgebracht haben. Es ist stickig heiÃ. Wir alle, auch die Nonnen, pressen uns Tücher auf Nase und Mund, um den Gestank, der von der Königin ausgeht, besser zu ertragen.
Nur Teodrada nicht. Sie sitzt tapfer an der Seite ihrer Mutter und verscheucht unentwegt und erfolglos die Fliegen. Eine Dame nach der anderen verlässt den Raum, eine von ihnen nimmt die
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